Dieser Text erschien im Mai 2015 im gemeinsamen Nachrichten-Portal von web.de, gmx und 1&1. Weil der Blogbereich dort jedoch im April 2018 eingestellt wurde, gibt es den Beitrag jetzt hier im Volltext (vorher waren hier nur Teaser und Link).
Es war noch in der Schulzeit als mir der Vorwurf zuerst begegnete: „Du mit deinen wissenschaftlichen Erklärungen immer“, sagte meine Freundin und verdrehte die Augen, „die machen die Welt so kalt und trostlos.“
Ich fragte mich: Ist es für sie umgekehrt? Ist die Welt für sie nur schön, solange sie nicht weiß, wie sie funktioniert? Das überraschte mich.
Heute – mehr als 20 Jahre später – weiß ich, dass ich damals die falschen Schlüsse zog. Meine Freundin lehnte nicht das Wissen an sich ab. Ihr erschien die naturwissenschaftliche Art des Wissens nur abstoßend unvollständig. Es fehlte ihr in den Erklärungen von Physik
oder Biologie einfach etwas Entscheidendes. Und sie ist nicht die Einzige, der es so geht.
Ich verstehe inzwischen, was das ist. Ja, mehr noch, seitdem mir klar geworden ist, was die Leuten da eigentlich vermissen, stimme ich ihnen sogar zu: Ja, es fehlt etwas in den Naturwissenschaften. Der Unterschied ist nur: Ich bewerte das anders. Für mich ist es
sogar ein Vorteil und kein Nachteil.
Es ist doch so: Alles, was wir Menschen uns erzählen und auch jede Geschichte, die wir in Buch, TV oder Zeitung sehen oder lesen, hat immer beides drin – Fakten und ihre Bewertung für unser Leben. Meist werden beide als untrennbar verbunden wahrgenommen, obwohl sie es tatsächlich gar nicht sind. Und darum geht es.
Nehmen wir mal an, eine Freundin stellt überrascht fest, dass sie schwanger ist und spricht mit mir darüber. Ganz kurz wird es bei dem Gespräch darum gehen, ob sie das wirklich sicher weiß, etwa mit einer Rückfrage von mir: „Hast du einen Schwangerschaftstest
gemacht?“ Wenn sie das bejaht, wird es aber um viel bedeutsamere Fragen gehen: „Wie ist das passiert? Freust du dich? Ist es von jemandem, mit dem du dir eine gemeinsame Zukunft vorstellen kann?“
Moralischer Kompass gesucht
Ich sage „bedeutsamere Fragen“, weil sie mit Recht irritiert wäre, wenn ich in so einer Situation nur über den Schwangerschaftstest selbst reden würde und nicht über die anderen, für sie lebensverändernden und emotional entscheidenden Fragen. Als Freundin kann sie erwarten, dass ich mich vor allem dafür interessiere, welche Bedeutung die Nachricht für ihr Leben hat.
Es wäre merkwürdig kalt, wenn ich angesichts ihrer Lage ausschließlich darüber reden würde, dass in ihrem Urin das Hormon hCG messbar ist und dass dieses nur von Plazentagewebe und Embryos gebildet wird und wie interessant das ist.
Denn natürlich sind die reinen Sach-Informationen eine leere Wüste für sie, wenn sie sich über ihre Gefühle im Unklaren ist oder einen moralischen Kompass sucht. Sie helfen ihr nicht herauszufinden,
was der Sinn ihres Lebens ist oder welche ihrer persönlichen Ziele sie verfolgen sollte.
Aber: das ist ja auch nicht ihr Job!
Bei der Beantwortung der allermeisten Fragen, die eine Frau beschäftigen, wenn ihre Regel ausbleibt, helfen ihr die letzten Jahrhunderte biomedizinischer Fortpflanzungsforschung natürlich rein gar nicht. Weil es dann eben vor allem um persönliche und gesellschaftliche Dinge geht. Aber diese Themen fallen ja auch nicht in den Aufgabenbereich der Naturwissenschaft. Ihr Wissen ist erstmal nur für eine einzige, kleine Auskunft nützlich, nämlich für eine Antwort auf die Frage: Bin ich schwanger oder
nicht?
Natürlich gibt es Fragen, da kann jeder für sich selbst rausfinden, was die Fakten sind. Für andere aber brauchen wir die Wissenschaft. Und das ist so eine. Wenn eine Frau in einem frühen Stadium rausfinden will, ob sie schwanger ist, kann sie das nur mit Methoden
feststellen, die aus naturwissenschaftlicher Forschung heraus entwickelt wurden.
Schwangerschaftstest beantwortet nur Sachfrage
Und es kann niemand bestreiten, dass eine eindeutige Antwort auf diese Frage für das weitere Gespräch sehr nützlich ist. Denn solange die Freundin in meinem Gedankenexperiment eine Schwangerschaft nur vermutet, würde ich nicht so tief in das Gespräch über die großen Lebensthemen einsteigen, sondern ihr raten, sich erstmal
Klarheit zu verschaffen. Nur wenn das Schwangersein eine Tatsache ist, sollte sie anfangen sich ernsthaft zu überlegen, welche Konsequenzen diese Schwangerschaft hat und wie sie damit umgehen will. Alles andere wäre nur sinnlose Aufregung.
Also: Ja die Naturwissenschaften haben diesen ganz engen, sachlichen Blick. Aber wer den als kalt empfindet, begeht meiner Meinung nach den Fehler zu denken, dass dieser Blick schon ein vollständiger sein soll. Aber das soll er gar nicht sein. Um persönliche oder politische Entscheidungen zu treffen, müssen wir Menschen diese Fakten natürlich wieder mit dem zusammenbringen, was für uns Sinn und Bedeutung transportiert. Erst das ergibt dann das Gesamtbild und die Grundlage für unsere Entscheidungen.
Wer sich fragt, warum diese strenge, künstlich erscheinende Abtrennung der Fakten notwendig ist, wenn man dann doch eh wieder alles zusammenbringen muss, sollte bedenken, dass Fakten für jeden etwas anderes bedeuten. Nur wenn Fakten pur sind,
können wirklich alle sie nutzen. Egal welche Ziele und Hoffnungen eine Frau im Leben hat, welche Prioritäten und Moralvorstellungen – ein Schwangerschaftstest wird ihr da nicht reinreden. Er liefert ihr
lediglich die Antwort auf eine Sachfrage. Und für mich klingt das nicht kalt, sondern nach einem sehr nützlichen Service. Auch wenn die eigentliche Arbeit dann erst anfängt.