Archiv der Kategorie: Biologie und Medizin

Müssen wir Placebo-Medizin wie die Homöopathie bekämpfen?

Dieser Text erschien im Februar 2016 im gemeinsamen Nachrichten-Portal von web.de, gmx und 1&1. Weil der Blogbereich dort jedoch im April 2018 eingestellt wurde, gibt es den Beitrag jetzt hier im Volltext (vorher waren hier nur Teaser und Link).

Während die einen schwören, Homöopathie habe ihnen schon unzählige Male geholfen, ist sie für die anderen eine esoterische Pseudomedizin. Unmöglich, dass beide Seiten Recht haben, oder?

Ich will ehrlich sein. Ich persönlich kann mit der Homöopathie nichts anfangen. Die Theorie dahinter ist pseudowissenschaftlich. Klinische Studien zeigen immer wieder, dass die Wirkung der Kügelchen nicht über die von Placebos hinausgeht. Und wenn
Freundinnen ihre Homöopathen loben, klingt es in meinen Biologen-Ohren wie das Schwärmen für einen schamanistischen Alchemisten.

Eigentlich sollte mich das zu einer natürlichen Verbündeten des neu gegründeten Netzwerkes Homöopathie machen, die der Alternativmedizin-Richtung gerade medienwirksam den Kampf angesagt hat und über ihre Unwirksamkeit aufklären will.
Aber – und das wird jetzt einige überraschen: Ich denke nicht, dass meine Freundinnen sich die homöopathische Wirkung nur einbilden. Die ist durchaus da. Ja, ich bin sogar davon überzeugt, dass sie bei ihren Homöopathen etwas bekommen, das im Rest des  Gesundheitssystems oft schmerzlich fehlt. Etwas, wovon sich Ärzte im Allgemeinen einScheibchen abschneiden sollten.

Wer sich gerade verärgert fragt, wie um alles in der Welt diese beiden Aussagen zusammenpassen sollen, ist wahrscheinlich in bester Gesellschaft. Denn wie kann etwas gleichzeitig esoterischer Blödsinn und wertvolle Medizin sein? Das geht doch nicht, oder?
Doch, das geht. Und um das zu verstehen, muss man sich nur die Erkenntnisse der Placebo-Forschung anschauen.

Placebos wirken durchaus

Denn was bedeutet es, wenn wir sagen, etwas sei ein Placebo? Viele denken ja, ein Placebo zu bekommen sei gleichbedeutend damit, gar nicht behandelt zu werden. Wissenschaftsbasierte Medizin muss schließlich in klinischen Studien beweisen, dass sie wirksamer ist als die Placebo-Behandlung. Das nährt das Vorurteil, Placebos seien etwas Wirkungsloses. Aber das stimmt nicht.

In Studien, in denen eine echte Behandlung und eine Placebo-Behandlung zusätzlich noch mit einer Nicht-Behandlung verglichen werden, zeigt sich, dass es den Placebo- Behandelten besser geht als den Nicht-Behandelten. Und zwar nicht nur in ihrer subjektiven Wahrnehmung, sondern auch nach objektiv nachweisbaren Kriterien.

Das, mit was behandelt wurde, mag zwar ein Nichts sein, die Reaktion auf dieses Nichts ist aber sehr real. Denn auch Gedanken, Gefühle und Erwartungen können bei Menschen
über Nerven und Hormone Prozesse anstoßen, die messbare Änderungen in ihrem Körper bewirken.

Inzwischen kommt man auch nicht mehr um die wissenschaftlich abgesicherte Erkenntnis herum, dass dieser Placebo-Effekt schon immer ein Teil ganz normaler medizinischer Behandlungen ist. Auch wenn wir unsere Blutdrucktabletten nehmen, etwas gegen die Schmerzen schlucken oder die Pillen gegen Parkinson, beruht die Wirkung nicht allein auf dem direkten Effekt der Arznei-Moleküle auf unsere Körperchemie, sondern zusätzlich auf dem psychologisch vermittelten Effekt, den wir selbst bei uns auslösen – dem Placebo-
Effekt.

In nichts zeigt sich die Bedeutung des Placebo-Effekts für die allgemeine medizinische Praxis für mich deutlicher als in dem Unterschied, den es macht, wenn Krankenhaus- Patienten am Tropf Medikamente im wachen Zustand oder in Schlaf/Narkose  bekommen. Natürlich wirken echte, pharmazeutische Mittel auch, wenn die Patienten ohne Bewusstsein sind. Aber sie wirken messbar stärker, wenn die Patienten mitkriegen, dass sie sie erhalten haben.

Obwohl es Stand der Forschung ist, dass medizinische Behandlungen generell auf zwei verschiedene Arten wirken, wird die psychologische Komponente im Gesundheitssystem aber oft nicht systematisch genutzt.

Psychologische Unterstützung hängt vom Arzt ab

Nach meiner Erfahrung ist es schon Glückssache, ob man an einen menschlich inkompetenten Holzklotz von Arzt gerät oder ob man bei jemandem landet, der das Gespräch mit Patienten zu nutzen versteht, um Vertrauen aufzubauen und Zuversicht in den Erfolg der geplanten Therapie zu vermitteln. Es ist also Zufall, ob man den psychologischen Boost kriegt, den eine gelingende Patienten-Arzt-Beziehung zusätzlich zur pharmazeutischer Wirkung auslöst.

Zudem gilt es unter wissenschaftsbasierten Medizinern meist als ethisch nicht vertretbar, Patienten reine Placebos zu geben. Wenn sie meinen, man könnte von einer Placebo- Behandlung profitieren, greifen sie daher höchstens zu harmlosen Medikamenten, von denen sie sich in dem Fall aber weniger eine Arznei-, als vielmehr eine Placebo-Wirkung versprechen.

Aber auch über die Anwendung solcher sogenannten Pseudo-Placebos wird eher verschämt unter der Hand geredet.
Ich denke, so lange der Umgang mit dem Placebo-Effekt in der modernen, medizinischen Praxis noch so unzuverlässig genutzt wird, werden es immer Alternativmediziner sein, die diese Lücke füllen.

Zwar haben Homöopathen vom Naturwissenschaftlichen her gesehen nichts zu bieten. Trotzdem scheinen sie mit ihrer windigen, 200 Jahre alten Pseudowissenschaft den Placebo-Effekt weit systematischer zu nutzen als das die normale Ärzteschaft sonst tut.

Meiner Meinung nach schreit das nicht nach einem wütenden Kampf gegen die Homöopathie, sondern sollte eher dazu anstacheln, die psychologische Dimension des Heilens endlich auch im normalen medizinischen Alltag konsequent umzusetzen. Damit
auch Menschen wie ich, die ihre Medizin gerne wissenschaftsbasiert halten, davon profitieren können.

Gibt es schlechte Gene?

Dieser Text erschien im Oktober 2015 im gemeinsamen Nachrichten-Portal von web.de, gmx und 1&1. Weil der Blogbereich dort jedoch im April 2018 eingestellt wurde, gibt es den Beitrag jetzt hier im Volltext (vorher waren hier nur Teaser und Link).

Gibt es schlechte Gene und wenn ja, was sind sie eigentlich? Wie in viel Bereichen des Lebens ist ein Schwarzweißdenken auch im Bereich der Genetik fehl am Platz. Denn es ist gar nicht so eindeutig zu unterscheiden, welche Gene gut und welche schlecht sind.

Als ich die Google-Bildersuche gestern mit dem Begriff „schlechte Gene“ fütterte, spuckte die Suchmaschine mir ein buntes Allerlei aus. Darunter auch viel zu Risikogenen. Symbolbilder von Rauchern und dicken Bäuchen. Auch Hirnscans von MSDiagnosen waren dabei oder Bilder von Familien mit gehäuftem Auftreten von Darmkrebs.
Die dazugehörigen Texte erzählten, dass manche Menschen mit einer größeren Anfälligkeit geboren werden – für Sucht oder Fettleibigkeit, Multipler Sklerose oder Darmkrebs.

Gute Gene, schlechte Gene

Ich lächelte traurig und schüttelte den Kopf. Nicht weil die Berichte über die Forschung falsch wären. Klar gibt es Veranlagungen. Es gibt Familien, in denen bestimmte Krankheiten häufiger sind als in anderen. Das ist wahr. Und doch führt es meiner Meinung nach auf den Holzweg die dazugehörigen Gene als „schlecht“ zu bezeichnen.

Und ich meine das gar nicht moralisch, sondern rein sachlich. Auch wenn ich nur als Biologin auf diese Frage schaue, ist es gar nicht so eindeutig, wie viele meinen, welche Gene „gut“ und welche „schlecht“ sind – im Sinne von förderlich oder schädlich für die
Gesundheit.

Nehmen wir die Gene, die eigentlich die eindeutigsten Beispiele für „schlechte“ Gene sein sollten: Es gibt ja durchaus Gene, die alleine die Macht haben, uns schwer krank machen. Und zwar egal, wie wir leben und welche Gene wir noch so haben. Gene, die von einer Mutation betroffen sind, die sie kaputt gemacht haben. Gene, die so wichtig im Körper sind, dass Menschen ernste Ausfallerscheinungen haben, wenn diese kaputt-mutierten Gene ihren Job nicht richtig machen. Für diese kranken Menschen ist dieses Gen ganz sicher etwas Schlechtes. Damit ist aber noch nicht die ganze Geschichte erzählt.

Gendefekt als Chance

Gerade bei Ein-Gen-Krankheiten, die sehr häufig sind, weiß man inzwischen, dass sie für die Gesundheit ihrer Träger nicht nur schädlich, sondern auch nützlich sein können. Die bekanntesten Beispiele dafür sind genetische Krankheiten, die die Funktion der roten Blutkörperchen stören, wie die Sichelzellanämie oder die Thalassämie.

Hat man zwei dieser defekten Gene, kann das die  Sauerstoffversorgung unseres Körpers massiv beeinträchtigen. Aber: Bei nur einem defekten Gen ist sie fast normal. Und hier ist
der Defekt plötzlich sogar ein Vorteil – zumindest in Malaria-Gebieten. Denn die defekte Variante des Gens schützt vor den schwereren Verläufen der Infektion. Sprich: Man wird krank, überlebt aber.

Wenn die Sichelzellanämie in Teilen von Afrika häufig ist und die Thalassämien im Mittelmeerraum, steckt also Evolution dahinter. Die defekten Gene boten in diesen Gebieten Vorteile. Weil Leute mit einer funktionsfähigen und einer defekten Variante des
Gens in den letzten Tausenden Jahren Malaria eher überlebten als Leute mit zwei gesunden Varianten des Gens, nahm die Häufigkeit der defekten Varianten in der Bevölkerung zu.

Diese Gene sind natürlich „schlecht“, wenn man sieht, dass sie die Ursache einer Krankheit sind. Wer das Pech zwei defekte Varianten geerbt zu haben, leidet unter schweren gesundheitlichen Probleme aufgrund dieses Gens. Trotzdem ist das defektes Gen für die, die nur eins davon geerbt haben, etwas Gutes. Es beeinträchtigt sie kaum im Leben und bietet einen Schutz gegen den Malaria-Tod.

Schlechte Gene in ihrem Kontext

Wie wir dieses Gen also insgesamt bewerten, hängt sehr von der Umwelt ab. In Zeiten und Gegenden, die frei von Malaria sind, ist es vor allem ein „schlechtes“ Gen. In Zeiten und Gegenden aber, in denen Malaria ein großes Risiko war, ist es eher wie ein zweischneidiges Schwert oder ein Schutzfaktor mit Nebenwirkungen.

Einzelne in der Gemeinschaft zahlen einen hohen Preis, während andere profitieren. Einen ähnlichen Effekt vermutet man übrigens bei einer anderen Ein-Gen-Krankheiten, die in unseren Breiten häufig ist: die Mukoviszidose. Hat man zwei defekte Kopien des betroffenen Gens, ist die Produktion von Schleim, Schweiß und Verdauungssäften in vielen Teilen des Körpers gestört. Vor allem durch ihre Probleme mit der Lunge ist die Lebenserwartung der Patienten stark einschränkt.

Die evolutionsbiologische Erklärung: Weil das Produkt des Mukoviszidose-Gens zugleich das Einfallstor einiger Krankheitserreger ist, geht man auch hier davon aus, dass der
Besitz eines gesunden und eines defekten Gens einen Schutz gegen Infektionen darstellt. Es gibt einige Hinweise darauf, dass dieses Gen unseren Vorfahren gegen Tuberkulose half.

Gene und ihre Evolutionsgeschichte

Meine skeptischen Gedanken beim Blick auf die Google-Suche zu den „schlechten Genen“ ist also: Wenn schon bei den eindeutigsten Krankheitsverursachern unter unseren Genen einige dabei sind, die nicht die reinen Bösewichte sind, für die wir sie gerne halten, was ist
dann erst mit denen, die „nur“ als Risikogene gelten?

Selbst wenn die Forscher eindeutig nachweisen können, dass eine Genvariante das Risiko einer Krankheit erhöht, sollten wir doch auch danach fragen, was dieses Gen uns in unserer Evolutionsgeschichte gebracht hat. Gerade wenn diese Variante in der Bevölkerung häufig ist, sollte die naheliegende nächste Frage lauten: Und was waren die Vorteile dieses Gens? Schützte es unsere Vorfahren vielleicht vor einem anderen Unheil?

Das Phänomen, das ich dort beschreibe, wird übrigens Heterozygoten-Vorteil genannt. Hier eine Erklärung des Begriff im Lexikon der Biologie bei Spektrum. Es gibt erstaunlicherweise noch keinen eigenen Beitrag dazu  in der deutschen Wikipedia (aber einen Text in der englischen Wikipedia).

Sind Hausgeburten riskant?

Dieser Text erschien im Juni 2015 im gemeinsamen Nachrichten-Portal von web.de, gmx und 1&1. Weil der Blogbereich dort jedoch im April 2018 eingestellt wurde, gibt es den Beitrag jetzt hier im Volltext (vorher waren hier nur Teaser und Link).

Ja, ich bin so eine. Ich habe mein zweites Kind zu Hause bekommen. Und ich kenne die unterschiedlichen Reaktionen darauf. Die Einen schütteln missbilligend den Kopf. Die Anderen dagegen bekommen leuchtende Augen. Dabei kann die Frage des Geburtsortes eine rein pragmatische Angelegenheit sein. Für mich jedenfalls war sie es.

Beim ersten Kind entschieden wir uns für das Krankenhaus. Beim zweiten für unser Zuhause. Und an beide Geburten denke ich gerne zurück. Nicht, weil Gebären so eine tolle Erfahrung wär. Sondern weil ich mich an beiden Orten in guten Händen gefühlt habe
Merken und weil die Freude danach so groß war: Puh! Endlich vorbei! Hallo, mein Schatz! Willkommen!

Aber darf die Frage des Geburtsortes eine sein, die man frei Schnauze entscheidet? Was ist denn mit der Sicherheit? Es gibt Leute, die halten nur Klinikgeburten für sicher. Für sie war ich nur bei meiner ersten Geburt gut aufgehoben – in der direkten Nähe von Ärzten und einem OP-Tisch. In ihren Augen hatte ich bei der Hausgeburt lediglich Glück, dass nichts Schlimmes passiert ist keine vorzeitige Plazenta-Ablösung, schwere Blutungen oder sonstige Geburtsnotfälle.

Und dann gibt es die andere Fraktion, für die es genau andersrum ist. Für sie war ich nur bei der zweiten Geburt in Sicherheit – zu Hause, geborgen, mit der 1:1-Betreuung einer erfahrenen Hebamme. Bei der Klinikgeburt hatte ich dagegen in ihren Augen nur Glück, dass
ich nicht Opfer geworden bin von Vernachlässigung in einer überfüllten Station oder von nebenwirkungsreichen Eingriffen in den natürlichen Geburtsprozess.

Wie passen diese so unterschiedlichen Blickwinkel zu meinem Gefühl, an beiden Orten sicher gewesen zu sein? Eigentlich ganz gut – wenn man sich von dem Anspruch frei macht, dass nur eine Seite recht haben kann. Sicherheit war auch mir wichtig. Sehr wichtig sogar. Aber ich habe mich gefragt: Wann sind Hausgeburten sicher und wann sind sie es nicht? Und um diese Frage zu beantworten, lohnt ein Blick in die Niederlande.

Die Niederlande sind nämlich das einzige Industrieland, in dem Hausgeburten immer Teil der Geburtshilfe geblieben sind. Während in allen anderen entwickelten Ländern die Zahl der Hausgeburten im Laufe des 20. Jahrhunderts auf einen Wert nahe null fiel und die von Ärzten geführte Klinikgeburt zum Standard wurde, gingen die Niederländer einen eigenen Weg. Und so werden heute noch fast ein Drittel aller niederländischen Kinder zu Hause mit Hilfe einer Hebamme geboren.

Das niederländische System beruht trotzdem nicht – wie man vielleicht denken könnte – auf einer Glorifizierung der Hausgeburt. Diese Möglichkeit steht auch nicht allen offen. Viele Schwangere in den Niederlanden dürfen nicht zu Hause gebären, weil eine Hausgeburt für sie als zu riskant gilt. Wenn es Vorerkrankungen und bestimmte Risiken gibt oder wenn Komplikation auftreten, sind sofort Ärzte in der Klinik für die Geburt zuständig.

Die Forschung zeigt einfach, dass das die Sicherheit für Mutter und Kind erhöht. Was diese begleitende Forschung aber auch zeigt, ist, dass es für Frauen, deren Schwangerschaften ganz normal verlaufen, genau andersrum ist. Und da wird es interessant. Die Frauen mit den normalen Schwangerschaften nämlich sind am sichersten, wenn sie nicht von Ärzten betreut werden.

Das ist für die meisten deutschen Ohren sicher eine ungewohnte Aussage. Aber die Beweise dafür sind solide. Der Grund dafür ist, dass die Medizin – so segensreich sie für riskante Geburten ist – bei
normalen Schwangeren dazu neigt, übereifrig zu sein. Medikamente etwa, die eigentlich nicht gebraucht werden, greifen störend in einen körpereigenen Prozess ein, der ohne diese „Hilfe“ besser funktioniert. Und unnötige Eingriffe erhöhen für Niedrig-Risiko-Schwangerschaften die Gefahr von Komplikationen wieder. Wenn diese normalen Schwangerschaften also allein von Hebammen betreut werden, kommt es statistisch zu weniger Komplikationen.

Die niederländischen Erfahrungen zeigen, dass zu den Aufgaben der Hebammen beides gehört:

  • zu erkennen, wann ärztliche Hilfe nötig ist und
  • den normalen Geburtsprozess vor medizinischen Eingriffen zu schützen, die nicht benötigt werden.

Damit das für diese Gruppe gewährleistet ist, werden in den Niederlanden standardmäßig alle Niedrig-Risiko-Geburten allein von Hebammen begleitet. Die Kreißsäle für normale
Schwangere sind nicht unter Ärzte-, sondern unter Hebammen-Leitung. Und die Hausgeburten begleiten sie auch selbständig.

Und es hat sich eben auch herausgestellt, dass für normale Schwangere, die von Hebammen betreut werden, beide Orte gleich sicher sind. Die Risiken für Mutter und Kind sind in dieser
Gruppe bei Haus- und Klinikgeburt auf ähnlichem, sehr niedrigem Niveau. Weder die Sterblichkeit von Neugeborenen noch die Rate derer, die mit schlechten Vitalwerten geboren werden, sind bei geplanten Hausgeburten höher. Im Gegenteil.

Ja, die Zahlen für die geplanten Hausgeburten sind sogar mindestens so gut wie die der geplanten Klinikgeburten. Und das, obwohl in der Gruppe der geplanten Hausgeburten ja viele Verlegungen ins Krankenhaus eingerechnet sind und dies ja auch einen Risikofaktor darstellt.

Ich weiß, dass das viele überraschen wird, die nur die Klinikgeburt für sicher halten. Und klar werden sie diese Zahlen anzweifeln. Aber es gibt auf der Welt keine besseren Daten zu Hausgeburten als diese. Sie wurden aus Hunderttausenden von Geburten errechnet, die im zentralen Geburtsregister erfasst sind.

Aber für diejenigen, die am liebsten sähen, dass alle Kinder zu Hause geboren werden, sind die Daten auch schwer zu schlucken. Denn sie zeigen, dass die Sicherheit von Hausgeburten ganz klar darauf beruht, dass sie allein Niedrig-Risiko-Schwangeren offen steht. Und darauf, dass eine Klinik innerhalb von 20 Minuten erreichbar ist, falls ein Risiko sich erst während den Wehen zeigt.

Wenn diese Voraussetzungen aber erfüllt sind – wie bei mir – sind Hausgeburten hierzulande genauso sicher wie die in den  Niederlanden. Ich habe mich in den Händen der
Hausgeburtshebamme nicht nur genauso gut aufgehoben gefühlt wie vorher in denen der Klinikhebamme, ich war es auch tatsächlich.


Hier noch ein paar Links zu den englischen Fachartikeln über die niederländischen Studien, auf die ich mich beziehe. In ihnen werden Haus- und Klinikgeburten von Niedrig-Risiko-Schwangeren verglichen bzw. die von Hebammen geleiteten Geburten mit denen, die von Ärzten geleitet werden.

Vergleich Gesundheit der Kinder

Diese Studie fand bei Hausgeburten von Niedrig-Risiko-Schwangeren kein erhöhtes Risiko für die Kinder unter der Geburt Schaden zu nehmen:

Perinatal mortality and morbidity up to 28 days after birth among 743 070 low-risk planned home and hospital births: a cohort study based on three merged national perinatal databases – Abstract des Artikels aus BJOG 2015

Diese Studie warnt davor, die Geburtskliniken zu sehr zu zentralisieren, weil das Risiko für die Kinder steigt, wenn der Fahrtweg zur Klinik länger ist als 20 Minuten:

Travel time from home to hospital and adverse perinatal outcomes in women at term in the Netherlands – Fachartikel BJOG 2010

Vergleich Gesundheit der Mütter

Diese Studie ergab, dass Niedrig-Risiko-Schwangere, die schon mal geboren haben, bei Hausgeburten weniger Komplikationen erleiden als in der Klinik:

Severe adverse maternal outcomes among low risk women with planned home versus hospital births in the Netherlands: nationwide cohort study (Fach-Artikel im British Medical Journal von 2013)

Diese Studie zeigte, dass es eine Gruppe von Niedrig-Risiko-Schwangeren gibt, die von Hebammen-geleiteten Geburten profitieren. Sie erleiden weniger Komplikationen  als bei Arzt-geleiteten Geburten:

Severe Adverse Maternal Outcomes among Women in Midwife-Led versus Obstetrician-Led Care at the Onset of Labour in the Netherlands: A Nationwide Cohort Study (Fach-Artikel in PLoS von 2015)

Masern-Misere – wer ist schuld?

Dieser Text erschien im März 2015 im gemeinsamen Nachrichten-Portal von web.de, gmx und 1&1. Weil der Blogbereich dort jedoch im April 2018 eingestellt wurde, gibt es den Beitrag jetzt hier im Volltext (vorher waren hier nur Teaser und Link).

Die größte Gruppe mit Impf-Lücken? Flüchtlinge? Grüne Esoteriker? Nein, meine Generation!

Wenn man will, lässt sich der aktuelle Masern-Ausbruch in Berlin wunderbar in Feindbild-Schablonen betrachten. Wer dazu neigt zu denken, dass Gefahren grundsätzlich von Ausländern ausgehen, kann mit bedeutungsschwangerem „Siehste!“Gesicht betonen, dass der Masernausbruch diesmal von einem Flüchtlingsheim ausging.
Und wer die grünalternative Szene gerne für alle Übel der heutigen Zeit verantwortlich macht, empört sich – mit einen ebensolchen „Siehste!“-Gesicht über die Wissenschaftsferne der dort kursierenden Impfmythen.

Nicht nur Flüchtlinge ohne Impfung

Beides ist nicht ganz falsch. Aber ganz richtig ist es eben auch nicht. Zwar nahm der Ausbruch tatsächlich unter bosnischen Flüchtlingen seinen Anfang, weil es bei ihnen aufgrund des Jugoslawien-Krieges Generationen gibt, die unzureichend geimpft sind. Und klar verbreiten sich die Masern besonders rasant, wo die Impfrate aus weltanschaulichen Gründen niedrig ist – wie etwa in Waldorfschulen, bei bestimmten Religionsgemeinschaften oder in Stadtteilen mit hoher Eso-Öko-Quote.

Trotzdem ärgert es mich, wenn der Masernausbruch genutzt wird um diese Gruppen zu diffamieren. Denn ihre Beteiligung ist nur ein Aspekt der Geschichte. Es gibt andere Aspekte, die viel wichtiger sind, wenn es darum geht, für sich selbst die richtigen Entscheidungen zu treffen, finde ich. Es gibt nämlich eine noch viel größere Gruppe, die einen sensationell niedrigen Schutz gegen Masern hat. Und zu der gehört man unter Umständen sogar selbst!

Deutschland ist schlecht geimpft

Wer das ist? Na, ganz allgemein die Erwachsenen bis 45. Ja, wirklich: Bei einem Viertel der Leute, die Anfang 40 sind, fehlt der komplette Masernschutz. Bei den 30-Jährigen ist sogar nur die Hälfte vollständig vor der Krankheit geschützt.

Das ist plusminus meine Generation. In der wurden viele noch nicht gegen Masern geimpft. Oder nur einmal. Was nicht reicht. Anders als in den Generationen vor uns, haben wir die Krankheit aber trotzdem nicht mehr  zwangsläufig selbst bekommen. Denn Masern-Ausbrüche wurden in unserer Kindheit seltener. Wer älter war als wir, hatte die Krankheit durchgemacht und war deshalb immun. Und wer jünger war als wir, war zunehmend geimpft. Es baute sich also ein Herdenschutz um uns auf, der die Ungeimpften schützte.

Babys unter Herdenschutz

Bei jetzigen Ausbrüchen besteht daher oft die Hälfte der Betroffenen aus Erwachsenen. Man könnte das beruhigend nennen, weil es bei Masern-Erkrankungen bei Erwachsenen weniger häufig zu Todesfällen kommt. Alarmierend wird es aber, wenn man bedenkt, dass diese nur lückenhaft geimpften Leute ja die Mütter und Väter der gerade geborenen Kinder sind (oder ihre Tanten, Onkel usw.). Und diese Kinder sind sehr wohl durch schwere
Verläufe der Masern gefährdet. Vor allem, wenn sie  Vorerkrankungen haben. Und meine Generation bietet diesen momentan geborenen Babys bei Ausbrüchen keinen besonders
guten Herdenschutz.

Auf einen solchen Herdenschutz sind die Babys im ersten Lebensjahr aber weiterhin angewiesen. Sie können nämlich frühestens mit 9 Monaten selbst gegen Masern geimpft
werden. Bis dahin hilft ihnen nur, dass Vater, Mutter, Tanten und Onkel selbst geimpft sind und sie deshalb bei einem Ausbruch nicht anstecken. Auch ältere Kinder, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können – etwa weil sie eine chronische Krankheit haben – müssen darauf hoffen, dass Geimpfte um sie herum einen Schutzwall gegen die Krankheit bilden.

Falsche Feindbilder

Wenn wir uns – statt über dieses Sandwich-Generationen-Problem zu sprechen – vor allem über Zustände in Flüchtlingsheimen oder hanebüchene Impfgegner-Ideologie empören, läuft etwas schief, finde ich. Zum einen tut man Einzelnen durch die Lästereien oft
Unrecht. Es gibt auch an Waldorfschulen eine Menge Eltern, deren Kinder regulär geimpft sind. Und es gibt Flüchtlinge, die eine bessere Durchimpfungsrate haben als Deutsche.

Zum anderen lenken diese Geschichten von Lösungen des Problems ab. Wenn wir den Ausbruch benutzen, um über unser Lieblingsfeindbilder herzuziehen – egal ob das nun Ausländer sind oder die Öko-Eso-Szene ist, erwecken wir den Eindruck, wir könnten gegen die Probleme nur was tun, wenn wir zum Beispiel Leute zu Impfungen zwingen, denen sie misstrauen. Dabei gibt es ja Aspekte der Masern-Misere, die man als Impfbefürworter unter Umständen selbst beeinflussen kann und dann auch sollte.

Eltern brauchen Impfschutz

Ich jedenfalls bin überzeugt: Wenn alle werdenden und jungen Eltern ihren eigenen Impfschutz überprüfen würden und auch mit ihrem Umfeld darüber reden würden, dann wäre wesentlich mehr erreicht als mit der jetzt betriebenen Abwertung bestimmter
Gruppen oder mit der Drohung mit Zwangsimpfungen. Man muss sich dann vielleicht sogar eigenen Impfängsten stellen, wie ich sie hier ja letztes Jahr auch beschrieben habe.

Aber das lohnt sich. Denn die nahe Familie und enge Freunde spielen immer noch eine große Rolle für den Schutz der Kleinen, bevor diese selbst geimpft werden können. Als meine Jungs vor zehn bzw. sieben Jahren geboren wurden, war mir dieser Teil der Geschichte auch noch weniger klar als heute. Aber wäre ich mit meinem jetzigen Wissen heute noch mal schwanger, würde ich meine Nächsten auf jeden Fall bitten, ihren eigenen Impfschutz gegen die fiesesten Infektionskrankheiten zu überprüfen.

Den Masern-Impfschutz der 30- und 40-Jährigen zu checken, sollte meiner Meinung nach für den Schutz eines Kleinkinds in der (Groß-)Familie so normal sein, wie das Grabsche-Baby vom Topf mit kochendem Wasser und von scharfen Messern fernzuhalten. So wünschenswert und selbstverständlich wie es auch die Sicherung von Treppen und Steckdosen ist, wenn die Kinder ins Krabbelalter kommen. Oder das Üben von  Verkehrsregeln, wenn sie größer sind. Mit dem Wissen, dass man das Risiko damit nie auf Null senken aber doch reduzieren kann.

Masern: Wie wär’s, wenn wir erstmal damit anfangen, die Impflücken der Impf-Befürworter zu schließen?

MMR-Impfstoff2

Ich schüttle hier derzeit oft den Kopf, wenn wieder eine Impfpflicht gefordert wird. Denn es würde meiner Ansicht nach genügen, wenn sich in Sachen Masern erstmal ein paar Ärzte mehr als nur die Kinderärzte zuständig fühlen würden.

Wenn ich von meinen Erfahrungen und Gesprächen ausgehe, dann gibt es eine Menge Leute, die nicht ausreichend geimpft sind, obwohl sie – man höre und staune – rein gar nichts gegen das Impfen haben. Sie sind meiner Ansicht nach nur deshalb nicht ausreichend geimpft, weil sich von ärztlicher Seite keiner für ihre Impflücken zuständig fühlt.

Mein Vorschlag ist daher: Fangen wir doch erstmal an, das zu ändern, bevor wir bedrohlich mit der Impfpflicht-Keule drohen. Masern: Wie wär’s, wenn wir erstmal damit anfangen, die Impflücken der Impf-Befürworter zu schließen? weiterlesen

Immer noch Läuse! – Wenn das Läusemittel nicht wirkt …

(aktualisiert am 07.10.19)

Meine Freundin völlig entnervt: „Kann es sein, dass Läusemittel manchmal nicht wirken? Wir haben alles so gemacht, wie’s in der Packung steht und haben immer noch Läuse! Ich dreh‘ langsam durch…“

Tatsächlich gibt es Kopfläuse, die Behandlungen mit Läusemittel überleben, weil sie gegen das Mittel resistent sind. Die gute Nachricht ist aber, dass meine Freundin nur ein Mittel mit einer anderen Art Wirkstoff nehmen musste, um der Läuseplage doch noch Herr zu werden. Immer noch Läuse! – Wenn das Läusemittel nicht wirkt … weiterlesen

Gibt es sanfte Pestizide?

Dieser Text erschien im Januar 2015 im gemeinsamen Nachrichten-Portal von web.de, gmx und 1&1. Weil der Blogbereich dort jedoch im April 2018 eingestellt wurde, gibt es den Beitrag jetzt hier im Volltext (vorher waren hier nur Teaser und Link).

Ich dachte früher, natürliche Pflanzenschutzmittel seien generell besser als diese bösen, synthetischen Spritzmitteln. Heute weiß ich: Eine Superschurken-Entführung überlebt man mit solch fehlerhaftem Denken nicht.

Ein Gedankenexperiment: Nehmen wir mal an, ich sei Gefangene eines sadistischen Super-Schurken, der mich mit  Pflanzenschutzmitteln quälen will. Er lässt mir aber die Wahl, mit welchem er mich besprüht. Wie wähle ich das für mich geringste Übel?

Hauptsache Bio?

Sage ich: „Oh bitte, Hauptsache, es ist natürlichen Ursprungs!“ weil ich denke, Natürliches ist für uns Menschen generell sanfter und harmloser als jede „Chemie“? Ich bin mir unsicher und studiere daher lieber im Internet heimlich die Pestizid-Liste der
Weltgesundheitsorganisation (WHO), bevor ich mich entscheide. In ihr sind die Pflanzenschutzmittel nach akuter Gefährlichkeit sortiert.

Ich bin dann froh, nicht irgendein biologisches Mittel verlangt zu haben. Denn diese sind mitnichten alle ganz unten bei den ungefährlichsten Mitteln, wie man das aufgrund der gängigen Vorurteile erwarten sollte. Ernüchtert stelle ich fest, dass sie sogar quer durch die Kategorien zerstreut sind. Nikotin etwa findet sich in Ib, also in der Gruppe der hochgefährlichen Pestizide. Das  Biospritzmittel Rotenon wird in Klasse II eingestuft und
damit als moderat gefährlich. Spinosad, ein anderes Bio-Spritzmittel steht bei III (wenig gefährlich).

Klar, dass sich in jeder dieser Klassen auch eine Menge synthetischer Pestizide mit ähnlicher Gefährlichkeit finden wie die jeweiligen Bio-Pestizide. „Puh“, denke ich, „gut, dass ich noch mal nachgeschaut habe.“ Denn ob ein Stoff natürlich vorkommt oder
künstlich hergestellt wurde, ist ja für die Einschätzung der Gefahr völlig irrelevant. Wer hätte das gedacht?

Jetzt weiß ich: Eine wahre Heldin wählt in dieser Art Superschurken-Bedrängnis stets einen Stoff aus der untersten Gefahrenklasse der WHO – der Kategorie U. Völlig egal ob
künstlich oder natürlich. Bei diesen Pestiziden hält die WHO eine akute Gesundheitsgefahr für unwahrscheinlich. Gute Überlebenschancen also in der erzwungenen Spritzmittel-Dusche!
Wer sich an dieser Stelle gerade fragt, warum ich mir so alberne Superhelden-Geschichten ausdenke, hier die Alltagsvariante dieses Problems:

Gefährlicher Tabaksud

Letztens musste ich wieder dran denken, wie ich früher Zigarettenbrösel in Wasser eingelegt und mit der Brühe die Blattläuse an meiner Zimmerpflanze bekämpft habe. Das bringt sie zuverlässig um die Ecke. Begeistert war ich darüber aber nur, bis ich herausfand, dass Tabaksud – im Gegensatz zum Zigarettenrauch – Nikotin-Konzentrationen enthält, die auch für uns Menschen hochgiftig sind.

Wer sich schon mal mit Vergiftungsgefahren für Kinder beschäftigt hat, hat vielleicht gehört, dass für sie schon das Essen einer halben Zigarette lebensbedrohlich sein kann. Das gleiche gilt für Tabaksud. Trinkt ein Kleinkind etwa den Flüssigkeitsrest einer Limodose, in der Kippen gelöscht wurden, ist das nicht nur eklig, sondern eine
Todesgefahr. Eben weil eine tödliche Dosis Nikotin in der Limo-Pfütze gelöst sein kann.

Einige Todesfälle vor dem Verkaufsverbot

Aber Tabaksud ist nicht nur giftig, wenn man ihn trinkt. Wer die Brühe in eine Sprühflasche füllt um seine schädlingsgeplagten Rosen einzunebeln, dem drohen auch durchs Einatmen der Tröpfchen und durch Aufnahme des Nikotins über die Haut schwere Vergiftungen.
Bevor Tabak in den 70ern als Pflanzenschutzmittel verboten wurden, kam es immer wieder zu Todesfällen deswegen. Eine letale Dosis führt innerhalb von Minuten zur Atemlähmung.

Bedenkt man, wie gefährlich Tabaksud als rein pflanzliches Anti-Insekten-Mittel ist, sollte man meinen, Leute seien dankbar, wenn Ihnen in Internetforen Hinweise auf die Gefahr gegeben wird. Wenn man ihnen davon abgerät, weil dieses selbstgebraute Pestizid sie umbringen kann.

Doch von Dankbarkeit ist oft keine Spur. Eher reagieren sie mit der kopfschüttelnden Ungläubigkeit, mit der auch ich erst reagiert habe. Nach dem Motto: „Kann ja nicht so schlimm sein, oder? Sonst wäre doch Tabak als Genussmittel nicht frei verkäuflich!“

Oft kommen aber auch richtig wütende Antworten, so à la: „Was redest du? Das ist doch auf jeden Fall besser als diese Chemie-Gifte!“

Tatsächlich gibt es ein paar Pestizide aus der Chemie-Fabrik, die schlimmer sind als Nikotin-Brühe. Aber das sind gar nicht so viele. Und die schlimmsten sind inzwischen genauso verboten wie es Nikotin für diesen Zweck auch schon lange ist. Wer also gerade plante seinen nächsten Tabaksud anzusetzen, sollte wissen, dass jedes Pflanzenschutzmittel im Giftschrank des Baumarktes um die Ecke für unsere Gesundheit harmloser ist als diese Brühe.

So überraschend das auch klingen mag.

Die Vitamin-Verschwörung

Dieser Text erschien im Juli 2014 im gemeinsamen Nachrichten-Portal von web.de, gmx und 1&1. Weil der Blogbereich dort jedoch im April 2018 eingestellt wurde, gibt es den Beitrag jetzt hier im Volltext (vorher waren hier nur Teaser und Link).

Als Reaktion auf meinen Gentechnik-Beitrag erhielt ich eine Mail mit einer wahren Schimpf-Tirade. Besonders regte den Schreiber auf, dass wegen Gentechnik und der industrialisierten Landwirtschaft doch viel weniger Vitalstoffe im Essen sind als früher. Er sei dadurch quasi gezwungen, Vitamine in Tablettenform zu nehmen. Aber „diese PharmaMafia“ wolle ihm auch das noch wegnehmen. Jetzt sei nämlich pro Tablette weniger von den Vitaminen drin. Offensichtlich, so meinte er, seien Mächte am Werk, die ihn krank machen wollen, damit sie besser an ihm verdienen.

„Äääh… Was?“, dachte ich und war ganz verdattert. So wie ich immer verdattert bin, wenn Leute so weitreichende Verschwörungen für möglich halten. Und weil das alles so hanebüchen klang. Glaubte der Mann wirklich, was er da schrieb? Ich musste im Internet natürlich nicht lange suchen, um zu Seiten zu gelangen, die ins gleiche Horn stießen: Die größte Bedrohung jemals überhaupt seien diese Änderungen, hieß es da. Der freie Zugang zu Naturheilverfahren würde von einem perfiden, internationalen Kartell eingeschränkt.

Während ich las, fing ich immer breiter an zu grinsen und dachte mir: „Na, schau mal an, wer von dieser Panikmache am meisten profitiert…“. Denn ganz offensichtlich leben die Betreiber von Seiten, die am lautesten schreien, vom Verkauf alternativer Nahrungsergänzungsmitteln. In den Shops, die ich inspizierte, gibt es jedenfalls ein ganzes Arsenal von Kräuterextrakten und Essenzen, von Enzymen und Ölen, von VitaminMischungen und Mineral-Pülverchen zu kaufen.

Mir wurde klar: Von Nahrungsergänzungsmitteln lebt es sich offenbar am besten, wenn die Kunden glauben, dass ihre Gesundheit von diesen Pillen abhängt. Aber wie nur kann man diese Vorstellung im Kunden erzeugen? In unserem Teil der Welt, in dem Nahrung in Hülle und Fülle vorhanden ist? Das ist ja eigentlich absurd. Wie lässt sich bei Menschen das Gefühl von Mangel erzeugen in einer Zeit, in der sich jeder sogar im Winter frische Lebensmittel kaufen kann? „Wie geht das?“, fragte ich mich. „Denn das ist ja wie einen
Kühlschrank in der Arktis verkaufen!?“

Aber der Verkaufstrick ist ganz einfach: Man muss seinen Kunden nur weismachen, dass diese moderne Welt nur so tut, als würde sie uns gut ernähren. Man muss Kunden nur suggerieren, dass es eigentlich anders ist. Dass sie Mangel leiden, vielleicht ohne es überhaupt zu merken. Dass wir alle in Gefahr sind. Dass uns  schleichend, heimlich und nur für die Eingeweihten wahrnehmbar die für uns wichtigsten Stoffe geklaut werden. Dass wir über den Tisch gezogen werden von Mächten, gegen die wir nichts ausrichten können. Von Mächten, die so sind wie die grauen Männer bei Momo.

Nur dass sie unsere Vitamine klauen und nicht unsere Zeit. Was ich davon halte? Tja… ich halte das für eine sehr, sehr wirkungsvolle  Werbe-Botschaft. Daher hier meine Antwort:

Lieber Herr O.,

es ist gut, eine gesunde Skepsis zu haben gegen internationale Großkonzerne. Denn klar wollen die Geld verdienen. Und natürlich sind ihre Werbeversprechen immer zu vollmundig. Wir müssen wachsam sein und nicht alles glauben, was diese Firmen uns erzählen wollen. Und klar müssen wir der Pharma-Industrie genau auf die Finger schauen. Auch der Landwirtschaft natürlich und den Saatgut-Firmen. Aber wissen Sie, wem wir auch auf die Finger schauen müssen? Den Vitamin-Händlern und Ergänzungsmittel-Krämern! Denn auch bei denen, die ihre Kunden vor der Profitgier Anderer warnen, ist gesunde Skepsis angebracht. Vor allem wenn unsere Angst ihre Geschäftsgrundlage ist.

Beste Grüße,
Brynja Adam-Radmanic

Es gibt viele gute und vor allem unabhängige Informationsquellen darüber, wann und für wen Nahrungsergänzungsmittel sinnvoll sind, etwa das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), das Robert-Koch-Institut (RKI) oder die Gesellschaft für Ernährungsforschung (GfE). Ganz aktuell hat auch die Stiftung Warentest einen gut verständlichen Text mit Empfehlungen auf Basis des derzeitigen Stands der Wissenschaft.

Dort wird auch ausführlich über die Nebenwirkungen bei Überdosierung bestimmter Vitamine, Mineralstoffe und  Spurenelemente gesprochen wird. Denn in den letzten Jahren
gab es einige klinische Studien, bei denen  Nahrungsergänzungsmittel nicht die erwartete prophylaktische Wirkung zeigten. Manchmal trat sogar ein gegenteiliger Effekt ein. So wissen wir heute, dass starke Raucher durch Einnahme von Vitamin A und seiner Vorstufe Beta-Carotin ihr Krebsrisiko nicht senken, sondern sogar erhöhen. Wir wissen auch, dass
Diabetikerinnen in einer Studie von Vitamin C nicht weniger, sondern mehr Herzkreislauf-Erkrankungen bekamen. Und auch die Einnahme von Vitamin E senkte in einer Studie bei
chronisch Kranken nicht etwa die Wahrscheinlichkeit zu sterben, sondern erhöhte sie sogar.

Es ist nämlich mit Nahrungsergänzungsmitteln wie mit Medikamenten auch: Eine bestimmte Pille kann für den Einen ein Segen sein, für den Anderen aber das Falsche. Es lohnt sich also, genau hinzuschauen. Und es lohnt sich, beim Dosieren auf die neuesten Empfehlungen zu achten. Denn die Wissenschaft lernt jeden Tag dazu.

Gerade im Bereich der Vitamine hat sich unser Kenntnisstand enorm verbessert in den letzten Jahren. Wenn die empfohlene maximale Tagesdosis gesenkt wird, dann hat das einen guten Grund. Denn bei Vitaminen gilt nicht nur, dass zu wenig schadet und zu Mangelerscheinungen führt, es gilt auch, dass es bei einem Zuviel zu
Vergiftungserscheinungen kommen kann. Beim Vitamin B6 etwa  können bei Dosierungen höher als 50 Milligramm pro Tag Nervenstörungen auftreten.

Ich persönlich habe ja früher auch hin und wieder zu Vitamin- und Mineralstoff-Pillen gegriffen. In Lebensphasen etwa, in denen ich dachte, ich lebe so ungesund, dass ich zwischendurch mal mit Vitaminen gegensteuern muss.

Wegen der möglichen Risiken von Vitamin-Überdosierungen nehme ich heute aber nur noch welche, wenn es vertrauenswürdige, offizielle Empfehlungen dazu gibt. So gibt es bei uns im Haushalt Fluorid in der Zahnpasta und Jod im Salz. Während der
Schwangerschaften nahm ich Folsäuretabletten und die Kinder bekamen Vitamin K nach der Geburt und Vitamin D im ersten Lebensjahr.

Mehr braucht in unserem Überflussland kaum jemand. Da sind sich die Experten einig.

Jetzt isse drin, die Tetanus-Spritze. Und Keuchhusten darf auch wegbleiben.

Tetanus-Spritze

Heute fand dieser 4-fach-Impfstoff seinen Weg in meinen Oberarm. Ich kam zwar wegen der Tetanus, aber zu den anderen drei Auffrischungen in der Spritze sagte ich auch gerne: Her damit! Jetzt isse drin, die Tetanus-Spritze. Und Keuchhusten darf auch wegbleiben. weiterlesen

Auswärts geschrieben: Wie viel Transparenz ist transparent genug?

Ich habe für Laborjournal online die Entwicklungen bei der Umsetzung von Studientransparenz kommentiert:

Wie viel Transparenz ist transparent genug?

Statt die vom EU-Parlament verabschiedete Verordnung über Transparenz klinischer Studien so umzusetzen, dass Forschung und Patienten profitieren, versucht die Europäische Arzneimittelbehörde EMA, die Nutzung der Informationen stark zu erschweren. -> weiterlesen bei Laborjournal online

 

Seit ich den Text vor ein paar Tagen schrieb, ist auch vom IQWiG viel mehr zum Thema erschienen:

Außerdem gibt es eine Social-Media-Kampagne. Andrea Kamphuis, die beim IQWiG Pressearbeit macht, erklärt sie in ihrem eigenen Blog: Was hat es mit #screenonly auf sich? – Mit dem Twitter-Hashtag werden Kommentare und Karikaturen verbreitet, die die Folgen für unabhängige Forscher versuchen zu visualisieren: Twitter zu #screenonly.