Dies ist Teil vier meiner Berichte über das Turm der Sinne-Symposium 2013 (hier die Teile eins, zwei, drei) und der vorerst persönlichste. Denn der Vortrag von Ulrich Kühnen überraschte und beschäftigte mich so, dass ich mich sogar traute, danach eine Publikumsfrage zu stellen.
Der Psychologe zeigte anhand faszinierender Beispiele, wie sehr unser Selbstkonzept nicht nur den Blick auf uns selbst prägt, sondern auch, wie wir die Welt und andere Menschen wahrnehmen.
Menschen in individualistischen Kulturen wie der westlichen sehen sich ja selbst eher als unabhängig vom sozialen Kontext. Für Menschen in kollektivistischen Kulturen dagegen ist ihre Selbstdefinition abhängig von Gruppe, Rolle und Beziehungen.
Interessanterweise lässt sich messen, dass dieses kulturell geprägte Selbstbild einen großen Einfluss darauf hat, was und wie wir wahrnehmen. Wer sich selbst als kontexteingebettet sieht, sieht andere Menschen auch eher als kontexteingebettet. Das zeigt sich etwa, wenn man untersucht, was für Gründe wir anderen Menschen für ihr Handeln unterstellen. Amerikaner schreiben Verhalten eher der Person zu, Japaner eher der Situation.
Die Unterschiede zwischen individualistischer und kollektivistischer Kultur prägen aber auch unsere visuelle Wahrnehmung von Dingen im Raum. Bei Aufmerksamkeits- und Gedächtnistests zeigt sich, dass Amerikaner sich von einer Aquariums-Szene vor allem an die Fische im Vordergrund erinnern, Japaner dagegen mehr Hintergrund wahrnehmen. Und wenn es darum geht, etwas zeichnerisch wiederzugeben, sind Amerikaner besser darin, absolute Längen einzuschätzen. Japaner sind bei der Rekonstruktion relativer Längen überlegen.
Für die Annahme, dass diese Unterschiede tatsächlich mit dem vorherrschenden Selbstbild zu tun haben, spricht, dass sie durch eine bestimmte Art von Priming kurzfristig veränderbar sind. Kühnen ließ Menschen vor solchen Tests Personalpronomen in einem Text suchen. Wer Worte wie „wir, unser, uns“ umkringelt hatte, reagierte danach kontext-sensibler. Wer Worte wie „ich, mein, mir“ markiert hatte, reagierte individualistischer. Dieses Priming verändert kurzfristig die innere Gewichtung zwischen Individuum und Gesellschaft und damit auch unsere Wahrnehmung.
Auch ein Wahrnehmungsfehler namens ‚Spread of Alternatives‘ zeigt kulturspezifische Unterschiede und verändert sich nach Ich- bzw. Wir-Priming. Menschen neigen dazu, ihre eigenen Entscheidungen als Ausdruck der persönlichen Persönlichkeit anzusehen. Wir nehmen also an, dass unsere Handlungen von unseren eigenen Präferenzen bestimmt sind. Der Wahrnehmungsfehler entsteht dadurch, dass wir an dieser Annahme auch in Situationen festhalten, in denen unser Handlungsspielraum eingeschränkt ist. Das zeigt sich im Laborexperiment, wenn man Leute vor und nach einer eingeschränkten Wahl nach ihren Präferenzen fragt. Wird ihnen bei der Entscheidung nur etwas ihrer mittlerer Präferenz angeboten, rationalisieren die Versuchspersonen ihre Wahl im Nachhinein durch eine Aufwertung des Gewählten.
Ich fand es sehr interessant, dass der ‚Spread of Alternatives‘-Fehler umso deutlicher ausgeprägt ist, je individualistischer das Selbstbild der Person ist. Dieser Wahrnehmungsfehler scheint mir sehr bedeutsam für alle möglichen Entscheidungen des Lebens und dafür, wie ehrlich man vermag, mit sich selbst umzugehen. Ja, für mich wirft es geradezu einen Schatten auf die westliche, individualistische Kultur, wenn ihr Leitbild uns dafür prädestiniert unsere Bewertungen zu manipulieren, nur um uns vor der Erkenntnis zu schützen, bei einer Entscheidung NICHT autonom gewesen zu sein. Lustig, dass unsere westliche Kultur uns für diese Selbsttäuschung prädestiniert. Dass wir uns gern für eigenständiger halten als wir sind, ist ja noch ok. Aber dass wir für diese Illusion unsere Neigungen manipulieren, das hat doch eine gewisse Ironie, wenn man bedenkt, wie viel Bedeutung dem zugemessen wird, authentisch zu sein. Oder?
Meine Frage an den Referenten nach dem Vortrag bezog sich daher auch auf die Bewertung der kulturspezifischen Unterschiede. Ich fragte etwas in die Richtung, ob es nicht gegen die individualistische Kultur spreche, wenn sie einen empfänglicher für solche Wahrnehmungsfehler mache. Kühnen widersprach aber und meinte sehr diplomatisch, jede Art des Selbstbildes hätte seine Vor- und Nachteile. Mir schien, dass ihm die Frage danach, was nun besser sei – individualistisch oder kollektivistisch – unangenehm war. Kann ich auch verstehen. Denn ihm geht es in der Forschung ja darum, rauszufinden, wie das Selbstbild psychologisch funktioniert. Wahrscheinlich ist die Forschung dazu umso aussagekräftiger, je wertfreier man Selbstbild-Unterschiede betrachten und untersuchen kann. Dass sich beim Publikum Wertungen aufdrängen, ist da natürlich lästig… 😉
Auch Kühnens Vortragsfolien gibt es auf dieser Turm-der-Sinne-Seite zum Runterladen.