Warum ich frei bin, obwohl mich mein Hirn steuert

Titelbild des turmdersinne-Symposiums 2011, Bild zeigt einen Verbrecher als Marionette seines GehirnsEs ist ja immer eine Freude passende Schubladen für andere Menschen zu finden. Noch viel mehr Spaß habe ich allerdings daran, eine neue Schublade für mich zu finden. Samstag vor einer Woche war es mal wieder so weit. Über die behagliche Schublade, in der ich neuerdings sitze, wollte ich schon letzten Montag bloggen, bevor mir das Läuse-Thema dazwischen kam.

Meine neue Schublade trägt den Aufkleber „Kompatibilisten“, was heißt, dass ich mich nun offiziell zu den Leuten rechne, die sich zwar als biologische Maschinen sehen, aber trotzdem meinen, sie hätten einen freien Willen. Ja, die sogar meinen, freier könnte ihr Wille gar nicht mehr werden ohne willkürlich zu werden.

Aufgegangen ist mir das beim Vortrag von Ansgar Beckermann beim Symposium turmdersinne 2011 über „Verantwortung als Illusion? – Moral, Schuld, Strafe und das Menschenbild der Hirnforschung“. Beckermanns Vortrag war sicherlich nicht der mitreißendste des Wochenendes, aber gerade in seiner Unaufgeregtheit fühlte ich mich sehr zu Hause. Das Thema Willensfreiheit fasziniert mich schon seit Jahren, dabei fand ich den ganzen Streit darum aber zunehmend unsinnig.

Andere Symposiumsteilnehmer waren da ganz anderer Meinung. In einer der Pausen traf ich ein aufgebrachtes Psychologen-Paar. Sie augenrollend: „Oh, diese Neurofuzzis! Wenn die recht hätten, könnte ich meinen Job doch an den Nagel hängen!“ Er schäumend: „Auch der Roth gestern! Widerspricht sich selbst und merkt es nicht mal! Einerseits sagt er, der freie Willen sei eine Illusion. Andererseits redet er davon, Therapie müsste freiwillig sein. Was denn jetzt?“

Als ich antworte, dass die ganze Debatte darum nur auf Missverständnissen beruhe und zwar auf beiden Seiten, guckt er böse und verzieht sich schnaubend. Mit seiner Frau komme ich im Gespräch aber schnell überein, dass natürlich unsere Entscheidungen abhängig sind von unseren Erfahrungen und unserem Wesen. Wie sollte es anders sein? In diesem Sinne könnte man also sagen, unser Wille sei nicht frei. Aber das heißt ja nicht, dass nicht wir entscheiden und es heißt auch nicht, dass wir nicht therapierbar sind.

Und so verstehe ich auch den Determinismus der Hirnforscher. Mit determiniert meinen sie nicht unveränderlich, sondern nur, dass wir zu jedem Zeitpunkt nicht hätten anders handeln können als wir es taten. Schon morgen kann das aber anders aussehen, wenn wir anderes erlebt haben. Und durch eine Therapie können sich auch die Faktoren ändern, die unser Verhalten bestimmen. Zu jeden Zeitpunkt aber ergibt sich unser Handeln zwingend aus dem aktuellen Zustand unseres Hirns und der wiederum wurde geformt von Genen und der bisher erlebter Umwelt.

Doch auch, wenn dieses Missverständnis ausgeräumt ist, dass Determinismus nicht Unveränderlichkeit bedeutet, provoziert die Sprache der Hirnforscher heftigen Widerspruch, weil viele Leute sich gegen die Vorstellung sträuben ihre Synapsen und ihre Transmitter würden sie beherrschen. Woran liegt das? Formuliert man die Aussage um und sagt, jeder sei die Summe seiner Vergangenheit und seines Temperaments, haben die selben Leute kein Problem, obwohl es letztlich das selbe sagt.

Und an diesem Punkt fand ich Beckermann sehr erfrischend. Sein Satz „Ich kann ihnen versichern: „Das, was sie morgens im Spiegel sehen, sind Sie!“ erntete einige Lacher. Dieser banale Satz sollte nichts Geringeres ausdrücken, als dass nichts in uns über diesen sichtbaren Körper hinausgeht. Sprich: Wenn wir unser Ich meinen, ist es ein Teil dieses Körper und dabei ebenso körperlich wie die Funktionen unserer Niere.

Und da liegt für mich das wesentliche Missverständnis. Wenn Geisteswissenschaftler sich dagegen verwahren von Genen oder Neuronen gesteuert zu sein, dann sehen sie das als Fremdsteuerung. Als wär ihr ICH der Fahrer eines Gehirnautos, dessen Motor plötzlich ein Eigenleben nachgesagt wird. Sie realisieren nicht, dass es keinen Fahrer gibt und noch nie einen gab. Wir SIND das Auto. Eine sich selbst steuernde biologische Maschine. Und unser ICH ist einfach die Innenansicht von dem, was diese Nervenzellen da oben tun. Mehr gibt es nicht.

Und wenn die Hirnforscher von Synapsen und Transmittern sprechen, dann reden sie einfach davon, wie es bei unserem Ich unter der Motorhaube aussieht. Auf diese Weise reden sie etwa davon, mit welchen Verdrahtungen sich unsere Vergangenheit in unserem Hirn niedergeschlagen hat. Wenn sie von Erfahrungen reden oder von unserem Temperament, dann als etwas, was da oben produziert wird, in unseren Neuronen und ihrer Genaktivität, in Synapsen und ihren Transmittern. Sie würden sich sicher wie ich Beckermanns Statement anschließen mit einem: „Ja, das da im Spiegel BIST wirklich DU!“

Der Widerstand gegen diese Art des Denkens ist groß, weil die Vorstellung vom Dualismus zwischen Körper und Geist/Seele so stark in unserem Denken und unserer Kultur verankert ist, dass die Leute wirklich Schmerzen empfinden, wenn sie versuchen sie loszulassen.

Aber geht ihnen irgendwas verloren ohne diese Vorstellung? Ich meine nein. Es ist immer noch alles da. Mein Innenleben ist ohne immateriellen Geist noch genauso reich und vielgestaltig wie vorher. Ich empfinde und denke, entscheide und genieße. Nur mit einer materiellen Basis. Ohne meine Gene und ohne meine Neuronen kann ich gar nichts entscheiden. Genauso wenig könnte ich das ohne Körper oder ohne Vergangenheit.

Trotzdem ist auch die Rede der Hirnforscher davon, dass Willensfreiheit eine Illusion sei, irreführend, meint Beckermann. Vor allem kritisiert er diese Ausdrucksweise, wenn daraus folgen soll, dass keiner mehr schuld sein soll an irgendwas. Selbst wenn man annehme, dass niemand sich in zu einem bestimmten Zeitpunkt anders entscheiden konnte als er tat, gibt es doch Unterschiede, wen man für eine Tat verantwortlich macht und wen nicht. Wem man etwas übelnimmt und wem nicht. Diese Grenze zwischen schuldfähig und schuldunfähig brauchen wir immer noch und sollten wir nicht aufgeben, meint Beckermann.

Sie sei durch den Determinismus auch überhaupt nicht gefährdet, wenn man die Willensfreiheit so sieht wie John Locke, nämlich als die Fähigkeit

  1. vor einer Entscheidung innezuhalten und zu überlegen und
  2. das Ergebnis dieser Überlegung dann auch in Handeln umzusetzen.

Für Beckermann sind das normale Fähigkeiten eines gesunden Menschen. Geht eine davon flöten, würde ein Täter zurecht anders behandelt. Wenn jemand „die Sicherung durchbrennt“ und er im Affekt zuschlägt, fehlt Punkt 1 und wenn bei einer Person eine Sucht- oder Zwangserkrankung jede Entscheidung dominiert, hapert’s bei Punkt 2. Die Person überlegt vielleicht, kann aber nicht entsprechend handeln, weil sie sozusagen nicht Herrin im eigenen Haus ist.

Ich fand das im Vortrag sehr kompatibel mit der Hirnforschung, die ja auch untersucht, ob und wie sich Hirne von extremen Gewaltverbrechern von „normalen“ Gehirnen unterscheiden. Gerhard Roths Eröffnungsvortrag, über den sich die Psychologen so ereiferten (den ich aber sehr gut fand), behandelte ja auch Forschungen zur Suche nach Störungen in der Impulskontrolle und Angstwahrnehmung bei Intensivstraftätern. Und was sind das beides anderes als Bausteine in den Locke’schen Voraussetzungen von Willensfreiheit?

Man könnte also sagen, eine Person ist voll verantwortlich, wenn ihre biologische Entscheidungsmaschine da oben im Kopf richtig funktionierte zum Zeitpunkt der Tat. Und damit ändert sich nicht viel für die Rechtsprechung. Der Begriff „frei“ steckt voller Missverständnisse, aber wenn damit gemeint ist, dass ein Straftäter der Besitzer eines gesunden Gehirns ist und die Fähigkeiten hatte innezuhalten und nach seinen Überzeugungen und Bewertungen zu handeln, dann kann man sagen, er war zum Zeitpunkt der Tat frei und muss die Verantwortung für sein Handeln übernehmen.

Ich würde das unterschreiben. Ihr auch?

Übrigens: Ich habe Beckermanns Ansichten aus dem Gedächtnis und daher wohl eher mit meinen eigenen Worten wiedergegeben. Wer die Gedanken zur Quelle zurückverfolgen will, kann sich sein allgemeinverständliches Buch zum Thema holen, das ich mir auch gerade bei Amazon* bestellt habe:

Ansgar Beckermann
Gehirn, Ich, Freiheit: Neurowissenschaften und Menschenbild
Mentis-Verlag (September 2008)
ISBN-13: 978-3897856196

* mit dem Sternchen kennzeichne ich Partner-Links im Text (mehr dazu im Werbe-Disclaimer)

Ähnliche Artikel:

Ein Gedanke zu „Warum ich frei bin, obwohl mich mein Hirn steuert“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert