Ich musste heute an eine Situation denken, die schon ein paar Jahre her ist. Mein erster Sohn war fast ein Jahr alt. Wir waren mit anderen Baby-Müttern verabredet und eine von ihnen war sichtlich wütend: „Hast du DAS gelesen? Können sie das Zeug nicht testen BEVOR sie das unseren Kindern geben?“ Die Rede war vom Impfstoff Hexavac, der gerade vom Markt genommen worden war (Herbst 2005).
Mein Sohn hatte bis dahin schon drei Dosen des Sechsfach-Impfstoffs bekommen und deshalb war die erste Rückfrage von mir natürlich: „Wieso? Gab’s Nebenwirkungen?“ Die erregte Mutter erklärte, der Impfstoff sei mit der Begründung vom Markt genommen worden, dass der Hepatitis-B-Schutz wohl nicht lang genug wirken würde. Ich meinte: „Na, dann ist doch gut, dass sie das ersetzen. Gibt doch einen Ersatz, oder?…“ Gibt es in Form von Infanrix. Aber ich hatte ihren Punkt offensichtlich nicht verstanden.
Ich muss immer wieder an diese Situation denken, weil ich in ihr ein Muster entdeckt habe. Und dieses Muster meine ich seither ständig wieder zu erkennen, wenn sich etwas ändert. Wenn Wahrheiten von gestern heute nicht mehr gelten, wenn neue Ergebnisse alte Ansichten in Frage stellen, dann finden die Leute das einfach unmöglich. Die erste emotionale Reaktion ist immer: „Scheiße! Auf nichts kann man sich verlassen!“ Darauf folgt das Bedürfnis jemandem die Schuld zu geben: Wer, verdammt noch mal, hat da seine Arbeit nicht ordentlich gemacht?
Und ich spreche gar nicht von der Kritik der Impfgegner und -skeptiker, die meinen hinter der Geschichte stecke noch mehr, ja, die überzeugt sind, der Impfstoff sei eigentlich wegen ungeklärter Todesfälle vom Markt genommen worden. Wen diese Diskussion interessiert, kann bei Wikipedia die Kontroversen um das Ruhen der Zulassung von Hexavac nachlesen. Nein, mir geht es nicht um die Impfdebatte. Mir geht es um das Unbehagen, dass die Leute allgemein mit dem Wandel des Wissens haben.
Ich sage nicht, dass nicht auch manchmal Kritik gerechtfertigt sein kann. Und nein, ich weiß nicht, wie das bei Hexavac damals war, hinter den Kulissen. Keine Ahnung. Aber nehmen wir mal an, niemand hätte was falsch gemacht. Halten wir es einfach spaßeshalber mal für plausibel, dass man nach 1,5 Millionen geimpfter Kinder Informationen über den Impfstoff hat, die man vorher noch nicht haben konnte. Glauben wir also – nur mal so zur Probe – der offiziellen Begründung.
Wie hätten die Reaktionen in meinem kleinen Mütter-Mikrokosmos aussehen können, wenn das Vertrauen der Durchschnittsbürgerin in die Institutionen des modernen Lebens etwas höher wäre? Wie wär’s damit: „Ach super, dass sie das gemerkt haben mit dem unzureichenden Langzeitschutz!“ Oder mit: „Ah, das ist doch beruhigend. Jetzt wissen wir, dass sie die Wirksamkeit regelmäßig überprüfen und daraus auch Konsequenzen ziehen.“
Was, wenn Kurskorrekturen und Änderungen in ärztlichen Empfehlungen ein gutes Zeichen wären? Was, wenn das ein Zeichen wäre, dass das System lernt? Ein Zeichen dafür, dass die Wissenschaft was zu sagen hat und nicht ein Dogmatismus, der uns ewig gültige Wahrheiten verkaufen will, während Fehler und Irrtümer unter dem Teppich verschwinden?