Ich streite mich nicht gerne über Homöopathie. Die Leute reagieren da sehr empfindlich. Besonders Mütter. Ich hab mehr als eine getroffen, die der festen Überzeugung war, Globuli vom homöopathischen Arzt ihres Vertrauens seien das Einzige gewesen, das ihr Kind vor einer Karriere in chronischer Krankheit bewahrt habe. Widersprich mal einer Mutter, deren Kind gerettet wurde!
Ne Weile hatte ich mir deshalb geschworen, das Thema einfach nicht mehr zu kommentieren. Wer will schon böse Blicke ernten in einer gerade noch netten Runde? Wer will die traute Einigkeit zerstören, die alle bei den Kügelchen hegen? Ich nicht. Sollnse doch. Mir egal. So schlimm finde ich die Homöopathie außerdem gar nicht.
Ich war als Jugendliche ja auch mal bei einer homöopatischen Ärztin. Ich weiß, wie aufgehoben man sich da fühlt. Wie einem zugehört wird und alles abgefragt wird bis zur Farbe des Urins. Das ist herrlich. Ganz ironiefrei. Wen irgendwas Unbestimmtes plagt, der fühlt Erleichterung schon nach so einer Anamnese. Sie suggeriert: Wenn es irgendwas gibt, was bei mir aus dem Gleichgewicht ist, dann findet die Ärztin es.
Mütter kranker Kinder sind die dankbarsten Abnehmer dieser ärztlichen Gewissheit, dieses beruhigenden Selbstvertrauens, dieser Autorität! Nichts hilft ihnen besser ihre innere Panik zu besänftigen – diese tiefe Verunsicherung, die auch mich befällt, wenn meine Kinder irgendwas haben. Gute Ärzte vertreiben die diffusen Ängsten, machen die Welt wieder hell und berechenbar. Allein indem sie sind wie sie sind: bedächtig, routiniert, vertrauenserweckend. Homöopathen scheinen diesen Job besonders gut zu machen.
Meist nicke ich deshalb nur freundlich, lächle und entziehe mich den Erzählungen über die neueste wundersame Heilung und den Diskussionen um die homöopathische Notfallapotheke (ich sage nur: Arnika!). Denn bei allem Verständnis für das Phänomen Homöopathie, ist es doch schwierig für mich, nicht das Falsche zu sagen oder zumindest entgeistert zu gucken, ob der reichlich küchenpsychologischen Erklärungen für die Symptome des Nachwuchses.
Bleibe ich einen Moment zu lange oder werde gar nach meiner Haltung gefragt, kann ich mich womöglich nicht beherrschen und merke noch an, dass es bisher keinen wissenschaftlichen Nachweis für die Wirksamkeit von Homöopathika gibt. Und ich sage euch: Damit macht man sich nicht beliebt. Nein, gar nicht. Die Menschen fühlen sich angegriffen als hätte ich ihnen an den Kopf geworfen, sie seien leichtgläubig oder trügen ihr Geld und ihre Hoffnungen zu Quacksalbern.
Letztens hörte ich die giftige Antwort, dass dann wohl mit der Wissenschaft was nicht stimme, weil doch die Erfahrung immer wieder zeige, dass es sehr wohl wirke. Die Homöopathie würde vor allem auch wirkliche Heilung bringen, im Gegensatz zu den Antibiotika, dem Cortison und den unnötigen Operationen arroganter Schulmediziner.
Damit sind die üblichen Fronten wieder aufgebaut: Schul- gegen Alternativmedizin. Und ich bin da, wo ich nicht hin will: in der Verteidigerrolle für irgendwelche herablassenden, menschlich fragwürdigen Arztgestalten, mit denen die Leute schlechte Erfahrungen gemacht haben. In dieser Standard-Diskussion gibt es keinen Platz für Differenzierungen. Hier ist die Schulmedizin immer böse und greift hilflos zur größten Keule. Die Alternativmedizin ist die strahlende Heldin: stets hochwirksam, dabei aber sanft, natürlich und garantiert nebenwirkungsfrei.
Dass es quer zu dieser Front gute und schlechte Ärzte gibt, davon ist keine Rede. Auch nicht davon, dass Schulmediziner ihre eigene Art natürlicher Heilung haben. Wenn ich mit grippigem Kind zu unserem Kinderarzt um die Ecke gehe um sicher zu gehen, dass sich nichts Schlimmeres anbahnt in Bronchien oder Ohren, verschreibt der als guter Schulmediziner auch einfach mal GAR nichts, wenn das nicht nötig ist. Er erzählt dann vielleicht, dass er im Zimmer seiner hustenden Kinder damals immer die Wäsche getrocknet hat, damit die Luft schön feucht bleibt. Das ist an Sanftheit nicht zu überbieten, finde ich. Was Nebenwirkungsärmeres findet sich beim Homöopathen auch nicht.
Auch die Wissenschaftlichkeit der Medizin ist nicht so verteilt wie man angesichts dieses Grabenkrieges vermuten sollte. Das gängige Vorurteil lautet doch: In der Schulmedizin regiert die kalte Wissenschaft. Fakten und Zahlen, ohne Herz oder Seele. Da wird der Patient zur Nummer und kann nichts erwarten als Therapie von der Stange. Alternativmedizin gilt dagegen als individualisierte Erfahrungsmedizin. Hier steht der einzelne Mensch in seiner Ganzheitlichkeit im Vordergrund, der sich schließlich nicht in die Schablonen der Wissenschaft pressen lässt.
Dabei hapert es auch in der Schulmedizin oft genug an der wissenschaftlichen Überprüfung. Gut, bei der Homöopathie ist wirklich gar nichts nachweisbar. Aber viele andere Methoden der Alternativmedizin stehen wissenschaftlich auf festeren Füßen als so manche OP. Die eigentliche Trennlinie verläuft also nicht zwischen Schul- und Alternativmedizin, sondern quer dazu, und durch alle Felder der Medizin. Und das Wort Trennlinie trifft es nicht gut. Es ist mehr ein kontinuierliches Feld. Es fängt auf der einen Seite an mit Beobachtungen, Hypothesen und Therapiekonzepten, im Mittelfeld kommt die zunehmende ärztliche Erfahrung hinzu und das andere Ende der Skala bildet das mehrfach wissenschaftlich gesicherte Wissen, die sogenannte Evidenz-basierte Medizin.
Ärztliche Erfahrung ist wichtig, kann aber die wissenschaftliche Überprüfung nie ersetzen. Auch in der Schulmedizin gibt es immer wieder Erfahrungswissen, das einer Überprüfung nicht standhält. Jahrzehntelang wurde dieses oder jenes Medikament gegeben, bis sich herausstellt, dass es nichts bringt oder schlimmer noch: mehr schadet als nützt. Jede Art von Behandlung muss sich also die Frage gefallen lassen, ob sie hält, was sie verspricht. Es muss nicht plausibel erklären, wie es wirkt, sondern nachweisen, DASS es tatsächlich wirkt.
Eine Überprüfung des medizinischen Erfahrungswissen heißt notwendigerweise: Klinische Studien mit vielen Patienten und einer statistischen Auswertung. Das Individuum kann einen nämlich in die Irre führen. Selbst die schlimmsten Krankheiten gehen manchmal von alleine weg. Bei einer einzelnen Heilung kann man daher nie wissen, ob’s an der Therapie lag. Nur gemittelt über viele Einzelfälle kann eine Therapie zeigen, dass sie besser wirkt als die NICHT-Therapie.
Und dann ist da noch der Placebo-Effekt. Eine Therapie muss besser wirken als, wenn einer nur so tut als würde er einen therapieren, oder? Tabletten MIT Wirkstoff müssen besser wirken als Tabletten OHNE Wirkstoff. Operationen, bei denen tatsächlich was gemacht wird, müssen besser helfen als die, bei denen nur die Haut geritzt wurde um dem Patienten vorzutäuschen, dass er operiert wurde.
Es gibt da ein beliebtes Missverständnis, was Placebos angeht. Viele denken, der Placebo-Effekt sei ein eingebildeter. Dass der Patient nur denke, es ginge ihm besser, obwohl das nicht der Fall ist. Doch eine Placebo-Therapie hilft tatsächlich, statistisch nachweisbar und besser als Nicht-Therapie. Der Placebo-Effekt beschreibt, dass in der Behandlungssituation irgendwas Anderes geholfen hat als die zu untersuchende Therapie selbst. Der Heilung zuträglich sind etwa: liebevolle Zuwendung, das Vertrauen in den netten Arzt und die Erwartung der Heilung.
Wenn mein Kleiner sich weh tut, nehme ich ihn auf den Schoß, streichle ihn und frage ihn, ob ich mal pusten soll. Meist kommt ein klägliches Ja. Nach einer Weile sagt er dann: „Wieder besser, Mama.“ Bei der Wirkung dieses Rituals halte ich den Effekt der Kühlung durch mein Pusten für vernachlässigbar. Analog vermute ich, dass bei den meisten erfreulichen Arzt-Patienten-Begegnungen – egal ob in Schul- oder Alternativmedizin – die Selbstheilung und der Placebo-Effekt eine mindestens so große Rolle spielen wie die eigentliche Therapie.
Ich vermute, dass die Homöopathie das Drumherum so perfektioniert hat, dass es gar nicht mehr drauf ankommt, ob die Kügelchen wirken oder nicht. Studien zeigen: sie wirken nicht. Aber das ganze Ritual von Diagnose und Therapie hat einen enormen Effekt. Wenn Freundinnen und Bekannte über ihre homöopathischen Ärzte sprechen, höre ich immer ein besonders vertrauensvolles Verhältnis.
Jedenfalls scheinen Homöopathen das mit der Zuwendung und dem Vertrauen besonders gut machen. Vielleicht, weil sie sich neben dem Körper auch für die Psyche zuständig fühlen? Vielleicht, weil sie für jedes Symptom auch eine Diagnose und für jede Diagnose auch eine Therapie anzubieten haben? Ich weiß es nicht.
Nichts daran regt mich besonders auf. Warum also quäle ich die Homöopathie-Anhänger mit meiner Skepsis? Nun, wie gesagt, ich versuche es nicht zu tun. Aber manchmal kann ich meine Weltsicht nicht verbergen, ähnlich wie ich es mir grad schwerfällt, das Theater um das Christkind mitzuspielen.
Mein Großer war ja schwer beeindruckt vom Auftritt des Nürnberger Christkindes in seinem Kindergarten vor ein paar Tagen. Und ich fand’s auch süß wie ernsthaft die Kinder fragten und erzählten. Wie sie die niedlichen Notlügen schluckten dieses goldenen Christkindes mit Mädchenstimme. So bedauerte es etwa, ihnen leider nicht vormachen zu können wie es fliegt, weil der Engel, der dafür Sternenstaub über es schütten muss, so wahnsinnig schüchtern sei und nur komme, wenn keine Menschen da seien. Ich beobachtete amüsiert mit welch großen Augen mein Sohn dem Papa zu Hause erzählte wie das Christkind unsichtbar werden muss um durch Fensterscheiben fliegen zu können.
Muss man seine mystische Welt zerstören und ihm sagen, dass dieses Christkind ein Mädchen ist, eine Schülerin, die dieses Jahr für den Job ausgewählt wurde? Das es „in echt“ kein Christkind gibt? Dass es immer nur Papa, Mama, Oma, Opa sind, die die Geschenke kaufen? Nein, muss man natürlich nicht. Aber andererseits: Gehört es nicht zum Großwerden dazu, irgendwann zu checken, dass nicht das Christkind die Geschenke bringt? So wie man auch irgendwann auch merkt, dass Pusten keine magische Heilung bringt?
Erwachsene glauben nicht mehr ans Christkind. Ich kann mir auch keinen Mann vorstellen, der seine Freundin bittet, ihm mal den Zeh zu pusten, wenn mit ihm am Türrahmen hängen geblieben ist. Die meisten Erwachsenen pflegen aber irgendwo ihre mystischen Ecken. Bereiche ihres Lebens, in denen Vernunft und Nachprüfbarkeit keinen Zutritt haben, ja sogar aggressiv vertrieben werden.
Ich finde das nicht schlimm oder gefährlich. Nur irgendwie – irritierend. Weil man das Gute, Wahre, Schöne doch auch ganz ohne Esoterik haben. Es gibt gute Ärzte ohne Hokuspokus. Es gibt Zuwendung und Wärme, Heilung und Vertrauen von Menschen für Menschen auch in einer Welt von Kausalität und Wissenschaft. Das schließt sich doch nicht aus.
Und lasst euch sagen: Es gibt wundervolle Weihnachten ganz ohne Christkind! Ja, selbst wenn einem der Glauben abhanden gekommen sein sollte, kann man sich den schönsten Weihnachtsbaum schmücken, Lieder schmettern und seine Lieben beschenken. Ich bin jedenfalls für das volle Weihnachtsgedöns vom Kranz bis zum Stern, von leckeren Plätzchen bis zum saftigen Hirschgulasch. Hmmh. Ich freu mich! In dem Sinne: Fröhliche Weihnachten an alle!