Dick bleiben ist gesund

Seit ich einmal morgens beim Recken und Strecken ohnmächtig wurde, bin ich gegen Diäten. Da war ich 15. Ich weiß nicht mehr, welches Diät-Regime ich da einhalten wollte, aber ich erinnere mich noch wie ich danach aussah. Als mir schwarz vor den Augen wurde, fiel ich nämlich ungebremst mit dem Gesicht auf mein Skateboard und lief danach mit einem Oberlippen-Schorf herum, der nicht nur weh tat, sondern auch noch aussah wie ein Hitler-Bärtchen.

Natürlich hab ich in den beiden Jahrzehnten seitdem trotzdem meist versucht, mich gesund zu ernähren. Aber gezügeltes, diszipliniertes Essen ist nicht mein Ding. Ich vertrage keinen offenen Kampf gegen meinen Hunger. Und ich kriege seehr schlechte Laune davon. Daher bin ich stets daran interessiert, wenn ich von berufener Stelle bestätigt kriege, dass meine ablehnende Haltung völlig gesund und vernünftig ist. Heute ist diese berufene Stelle Achim Peters mit seinem Buch Mythos Übergewicht*.

Peters ist Diabetologe und Adipositas-Forscher, gehört also zu den Ärzten, die ihren dicken Patienten normalerweise raten abzunehmen. Aber Peters schwimmt gegen den Strom mit seinem Rat: „Esst euch satt.“ Anders als andere Ratgeber meint er das aber nicht nur, weil Diäten eh nichts bringen (das auch). Er behauptet darüberhinaus, dass Dickwerden eine gesunde Anpassung an bestimmte Lebensumstände ist.

Was ich nicht wusste: wie wenig an der Formel schlank=gesund wirklich dran ist. Im Gegensatz zur herrschenden Meinung zeigen nämlich immer mehr Studien, dass Dicksein das Leben sogar verlängern kann. Wer Herzinfarkte und Schlaganfälle eher überlebt sind nämlich nicht etwa die Dünnen, sondern die Dicken. Sie leben als Dialysepatienten länger und als Lungenkranke auch.

Achim Peters legte vor einigen Jahren eine Theorie vor, die nicht nur dieses Gewichtsparadoxon bei Schwerkranken erklärt, sondern auch, warum Dicke z.B. festere Knochen haben und in Prüfungssituationen weniger gestresst reagieren (Selfish-Brain-Theorie bei Wikipedia).

Im Zentrum von Peters‘ Erklärungen steht, wie sich Stress auf die Energieverteilung im Körper auswirkt, vor allem auf die von ihm entdeckte energetische Sonderrolle des Gehirns. Sollte Peters mit seiner Theorie recht haben – und seine Forschungen sprechen dafür – sind auch gut gefüllte Fett-Polster nur Zeichen der genialen Strategie meines Körpers, sich vor ungesundem Stress zu schützen und dabei trotzdem mein Gehirn am Laufen zu halten

Kaum etwas belastet den Körper mehr als ein dauerhaft erhöhter Cortisol-Spiegel. Das Stresshormon Cortisol ist zwar wichtig, weil es uns hilft bei Stressspitzen noch ’ne Schippe drauf zu legen – zu überleben, wenn’s eng wird und dabei auch noch Leistung zu bringen. Kreist es aber ständig im Blut, schadet es mehr als es nützt. Es lässt unsere Gewebe verschleißen und schneller altern, stört unseren Schlaf und senkt die Immunabwehr.

Es gibt ne Menge Menschen, die bei daueraktiviertem Cortisol dünn bleiben oder sogar abnehmen. In Stresszeiten laufen diese Leute auf Hochtouren. Achim Peters nennt sie Typ A. Ich kenn‘ das aus den Berichten von Bekannten und Freunden, die unter beruflichem Druck, in Ehekrieg oder nach Schicksalsschlägen gertenschlank bleiben und sogar sagen, sie müssten aufpassen, dass sie nicht vergäßen zu essen.

Mir könnte es nie passieren, dass ich vergesse zu essen. Ich schau‘ immer ungläubig und grinse schief, wenn mir jemand sowas erzählt. Wie kann man vergessen zu essen? Das zeigt ziemlich deutlich, dass ich zu den Anderen gehöre, zu denen, die Peters Typ B nennt. Zu denen, die sich in amerikanischen Filmen bei Liebeskummer erstmal ne große Portion Eis reinpfeifen.

Nun wird dieses „Comfort Eating“ ja normalerweise als problematisch angesehen. Und auch Peters warnt in seinem ersten Buch (Das egoistische Gehirn) noch vor dieser Strategie mit den Wellentälern des Lebens umzugehen. Ich hatte mir dieses erste Buch von ihm nach seinem hervorragendem Vortrag beim Symposium vom Turm der Sinne 2012 gekauft und war etwas enttäuscht, weil ich es weniger überzeugend fand als seinen Vortrag.

Sein hier besprochenes, gerade erschienenes zweites Buch Mythos Übergewicht*
ist nun wesentlich konsistenter und entspricht viel mehr den Inhalten seines Vortrages im Oktober. Denn hier betont er noch mehr, auf was seine und die Forschungen anderer hindeuten: Dass das Verhalten der Typ B-Menschen wie mir die physiologische Antwort auf ein Leben unter Stress ist (wobei es sehr individuell unterschiedlich ist, was Menschen als Stress erleben und wie gut sie darin sind, die Stressoren in ihrem Leben auszugleichen oder ihnen auszuweichen).

Wir Typ B-Menschen müssen aber „Comfort Eating“ machen – zumindest wenn wir von dem positiven Effekt profitieren wollen. Wir können nämlich – trotz anhaltender Belastung – unsere Stressantwort runterfahren und damit unseren Cortisol-Spiegel auf fast normale Werte senken. Dass wir dabei dick werden, ist „nur“ die unausweichliche Nebenwirkung dieser Fähigkeit sich anzupassen. Denn wer sein Stresssystem runterregelt, hemmt automatisch das, was Peters den „Brain Pull“ nennt, also die Fähigkeit des Gehirns sich von der aufgenommenen Nahrung so viel zu holen, wie es braucht.

Nun hält ein Gehirn, dass zu wenig vom Essen abbekommt, nicht einfach still und wartet auf die nächste Gelegenheit. Nein, unsere Nervenzellen da oben sind energiehungrig und setzen alle Hebel in Bewegung, dass ihr Bedarf gestillt wird. Sprich: sie fordern eine erhöhte Nahrungsaufnahme. Sie triggert Hunger, Appetit und Fantasien über das leckerste Essen.

Und Peters sagt, dass das gut so ist. Denn ist das Stresssystem runtergeregelt kann das Gehirn nur optimal versorgt sein, wenn mehr Nahrung aufgenommen wird. Mehr Nahrung als eigentlich notwendig wäre. Nahrung, von der dann immer ein Teil ins Fettgewebe wandert. Wenn wir Typ-B-Menschen unserem Hungergefühlen im Stress trauen, nehmen wir also zu.

Aber wir dann dickeren Menschen erweisen uns neueren Forschungen nach als gesünder als man gedacht hatte. Wir haben einen ausgeglichenen Hirnstoffwechsel und leben nachweislich länger als die gestressten, dünnen Typ-A-Menschen, die ihr daueraktiviertes Cortisolsystem nicht mit solchen physiologischen Tricks herunterfahren können.

Was wäre aber, wenn ich mich damals mit 15 nicht gegen Diäten entschieden hätte? Wenn ich als Typ B meinen Impulsen zu essen nicht nachgeben würde? Wenn ich wild entschlossen wäre, den Kampf gegen den Hunger zu gewinnen? Laut Peters führen Leute, die so leben, ein Leben im Dauerstress. Typ-B-Menschen auf Diät profitieren genausowenig wie gezügelte Esser von ihrer natürlichen Fähigkeit ihr Cortisol runterfahren zu können. Im Gegenteil. Sie sind ähnlich anfällig für stressbedingte Krankheiten wie Typ A-Leute, schlagen sich aber zudem noch mit einem chronisch unterversorgten Gehirn herum und mit dementsprechend mieser Laune.

Gibt es denn kein Rezept wie Typ-A- wie Typ-B-Menschen schlank und gesund bleiben? Doch, das gibt es, sagt Peters. Aber das heißt nicht Ess-Kontrolle sondern: Runter vom Stress. Die eigenen Bedürfnisse ernst nehmen, Konflikte besser lösen, weg von Stressoren oder anders mit ihnen umgehen. Also Achtsamkeitstraining statt Diät.

Wer das „Haifischbecken“ seiner Stressoren nicht verlassen kann oder will, ist akut von Stresskrankheiten gefährdet, besonders als Typ A-Mensch, diagnostiziert Peters. Typ B-Menschen können zumindest froh sein, dass sie ihr Cortisol trotz solcher Umstände runterfahren können. Sie sollten dick bleiben und gesundheitlich von der unerwarteten Schutzfunktion ihres hohen BMI profitieren.

Achim Peters: Mythos Übergewicht – Warum dicke Menschen länger leben. Was das Gewicht mit Stress zu tun hat – überraschende Erkenntnisse der Hirnforschung*

  • Gebundene Ausgabe: 272 Seiten
  • Verlag: C. Bertelsmann Verlag (18. Februar 2013)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3570101495
  • ISBN-13: 978-3570101490

 

* mit dem Sternchen kennzeichne ich Partner-Links im Text (mehr dazu im Werbe-Disclaimer)

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3 Gedanken zu „Dick bleiben ist gesund“

  1. Interessanter Artikel und ein interessantes Buch. Von Diäten halte ich auch nichts, von ausgewogener Ernährung, Bewegung und Entspannung aber umso mehr. Die Kunst ist es, diese Dinge in den in unserer Gesellschaft doch meist recht hektischen Alltag zu integrieren.

    Alex (Typ A ;-))

    1. Ja, denke auch, dass es eine richtige Kunst ist, mit sich selbst gut umzugehen. Rituale zu haben, um von Hektik und Anspannung auch wieder runterzukommen. Manchmal vergesse ich das. Aber mein Körper ist dann so nett, mich zu erinnern… 😉

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