Zum vierten Mal in Serie musste ich gestern abend „Max und Moritz“ vorlesen. Die „Bubengeschichte in 7 Streichen“ ist derzeit das Lieblingsbuch des Kleinen. Und der Große stößt gern dazu, wenn Papas Lesung kürzer war, und lauscht dann mit immer größer werdenden Augen.
In unserem Kinderbücher-Regal gibt es kaum etwas, was an Grausamkeit mit Wilhelm Buschs Klassiker mithalten kann (außer die Märchen der Gebrüder Grimm vielleicht, aber die kommen bei den Kindern bisher noch nicht so an). Was das Buch aber auch ganz nebenbei erzählt, sind ein paar ganz grundlegende Fakten des Lebens, die in heutigen Kinderbüchern sorgsam ausgespart werden. Das wurde mir aber erst klar, als der Kleine auf die Hähnchen in der Pfanne deutete und fragte: „Was ist das, Mama?“
„Naja, ähem…“, ich stocke und entscheide mich dann für die Wahrheit. „Das sind die Hühner, die im ersten Streich gestorben sind. Nur ohne Federn und Kopf.“ Ich blättere zurück. „Witwe Bolte hat ihnen die Federn gerupft und sie ausgenommen…“ Ich warte wie er es aufnimmt. Der Große nutzt die Pause um weiter zu dozieren: „Sie hat sich gedacht, dass man sie, wenn sie jetzt eh schon tot sind, doch auch essen kann.“ Der Kleine schaut und nickt. Dann lesen wir weiter.
Ich weiß, dass andere Eltern ihre Kinder in diesem Punkt schamlos anlügen. Und zwar die meisten, die ich kenne. Ihre Motive sind ehrenwert. Sie wollen den Kleinen den Zusammenhang zwischen süßen Bauernhoftieren und dem Fleisch auf ihren Tellern so lange wie möglich ersparen. Nur mit Scham und Scheu können sie darüber reden. Ja, wenn früher Sex das größte Tabu war, ist es heute wohl das Schlachten.
‚Gut‘, könnte man sagen, ‚wir sind halt moderne Konsumenten, die landwirtschaftliche Produkte generell nur aus der Verpackung kennen.‘ Aber ganz so ist es ja nicht, denn über die Herkunft von Eiern und Milch, Getreide und Kartoffeln, können sich die Kinder in jedem Bauernhof-Bilderbuch informieren. Sie kennen alles, von der Melkmaschine bis zum Mähdrescher. Vom Tiere-Töten ist jedoch nirgends die Rede.
Ok, eine kollektive Verdrängung unschöner Tatsachen. So what. Irgendwann, wenn sie soweit sind, kommen sie schon dahinter. So wie sie irgendwann auch nicht mehr an den Osterhasen glauben. Was bei dieser Erziehungspraxis allerdings nicht bedacht wird, ist die moralische Macht des Kinos. Gerade die Zeichentrickfilme der letzten Jahrzehnte haben doch ein zentrales Lieblingsthema: den bösen Fleischfresser.
Früher wurden noch explizit Menschen, die Tiere töten, zu Bösewichten erklärt, wie die Jäger in „Bambi“ und „Cap und Capper“ oder die unsympathische, reiche Zicke, die sich nach einen Pelzmantel aus „101 Dalmatinern“ sehnt. Heute dürfen Menschen-Unholde im Film höchstens Wald zerstören. Mehr hält das Publikum nicht aus. Um das Töten von Tieren zu dämonisiere müssen daher inzwischen vermenschlichte Fleischfresser herhalten.
Mit manchen kann ich leben, wenn sie das Thema augenzwinkernd angehen wie im Trickfilm „Madagaskar“, wenn der Löwe auf seiner Flucht aus dem Zoo immer hungriger wird und seinen Freund, das Zebra, anknabbern will. Den Zeigefinger unter dem Humor spüre ich aber dennoch. In „Madagaskar“ löst sich die Spannung aber wenigstens als die Pinguine rausfinden, dass Löwe Alex auch mit Fisch satt wird.
In „Findet Nemo“ wird gerade das Fische-Essen als verwerflich dargestellt. Zugegeben in sehr lustiger Form. Versuchen doch die Haie in einer Selbsthilfegruppe zu Vegetariern zu werden und ermahnen sich gegenseitig mit ihren Erkan und Stefan-Stimmen: „Vergiss nicht, Fische sind Freunde, nicht Futter!“ Was so ein Hai ansonsten essen sollte, wenn ihn der Jagdtrieb packt, lässt der Film offen.
Am unerwartet schlimmsten in dieser Kategorie fand ich aber bisher „Mullewapp“. Ein Bauernhof ohne Bauer und irgendwelche landwirtschaftlichen Tätigkeiten. Lauter Bauernhoftiere in schönster Idylle. Und in ihrer Mitte ein Schäfchen mit Namen Wolke. Ein entzückendes, allseits beliebtes Schafmädchen mit Schleife, das stets ermahnt wird, sich nicht außerhalb des Zaunes zu begeben. Natürlich läuft es doch einmal hinter seinem Ball her ins Kornfeld hinein und damit direkt in die Arme des bösen Wolfes. Eines sehr distinguierten, reichen und sadistischen Wolfes wohlgemerkt. Vor seinem Appetit auf Lammbraten wird Wolke natürlich gerettet. Franz von Hahn, der dicke Waldemar und Johnny Mauser eilen herbei und befreien das Lamm aus der dekadenten Villa des bösen Fleischfressers.
Mein Großer fand diesen vom Cover absolut harmlos daherkommenden Film viiiel zu aufregend. Das ist jetzt nicht weiter ungewöhnlich. Ihm ist noch vieles zu aufregend, aber diesmal träumte er sogar schlecht und wachte jammernd auf. „Mama, wie kann das sein, dass Mullewapp ab 0 Jahren ist? Star Wars Episode 1 ist ab 6 Jahren und da wird niemand gefangen und soll gefressen werden!“
Ich kann nur sagen, ich fand ihn auch furchtbar. Besonders im Hinblick darauf, dass auch bei uns früher oder später wieder Lammkoteletts in der Pfanne liegen! Wer könnte seinen Kindern nach so einem Propaganda-Film beichten, dass auch wir solche verachtenswerten Fleischfresser sind? Die wenigsten Leute werden deshalb zu Vegetariern. Das fände ich ja noch konsequent. Aber diese Heimlichtuerei und das schlechte Gewissen und, dass nur noch Fleisch gegessen wird, dem man nicht mehr ansieht, dass es von einem Tier stammt… ehrlich, das ist doch unwürdig.
Das heißt nicht, dass ich mich hinstelle und sage:“Süßer, die Wiener Würstchen, die du so gerne isst, sind übrigens aus dem dicken Waldemar gemacht. Aus keinem anderem Grund lebt der nämlich auf diesem Bauernhof!“ Nein, es geht mir nicht um Abhärtung (auch wenn ich Magdi Aboul-Kheirs Kolumne „Hurra, fleischfressende Kinder“ in diesem Zusammenhang äußerst amüsant fand‘). Ich will nur meine Kinder nicht belügen. Ich hätte ja auch Probleme, selbst Tiere zu töten. Aber wenn ich Fleisch esse, muss ich doch der Tatsache ins Auge sehen, dass jemand anders die für mich tötet. Alles andere käme mir wie Bigotterie vor.
Ich finde, man darf Kindern diese Grundlage unseres täglichen Essens nicht verbergen. Der Schock ist doch nachher umso größer, wenn man sie solche Filme gucken lässt und ihnen gleichzeitig unsere eigenen Ernährungsgewohnheiten verheimlicht. Sich plötzlich auf der Seite der Bösewichte wiederzufinden, das wär doch wie in diesen Psychothrillern, wo der Detektiv am Ende merkt, dass keiner als er selbst der Täter ist. Das ist doch traumatisierend! Nee, nee, diesem Schock versuche ich lieber mit wohldosierter, nüchterner Wahrheit entgegen zu wirken. Danke, Wilhelm Busch, dass Sie mir dabei helfen!
Mich beschäftigt das Thema ja auch wieder seit der Diskussion um die Kaninchenschlachtung in Schleswig-Holstein. Da spielen nochmal neue Themen mit rein, aber ein wenig habe ich Angst, dass mein Kleiner mich irgendwann mal fragen wird „Ist es okay, Tiere zu töten, um sie zu essen?„, denn außer mit zu einfachen Erklärungen ist das Ganze für mich nicht widerspruchsfrei zu bejahen.
Selbst hatte ich mich damals als Sechsjähriger dazu entschlossen, Vegetarier (als einziger in der Familie) zu werden (was immerhin fast 20 Jahre hielt), nachdem mir meine Eltern damals sowohl hohen Respekt und Liebe zu allem Lebenden, aber auch die gerupften Tatsachen der halben Hähnchen beigebracht hatten…
… prinzipiell habe ich es aber auch vor, es wie Du und meine Eltern zu halten.
Danke für den Link zur Kaninchenschlachtung in der Schule! Erstaunlich, dass die Lehrer das mitgemacht haben. Die Reaktionen waren doch vorhersehbar. Ist doch auch krass, gerade ein Kaninchen zu nehmen. Ein Tier, das viele Kinder als Streichel-Haustier kennen, als Kuscheltier und Osterhase. Und gerade so ein Tier zu nehmen, um so ein gesellschaftliches Tabu zu brechen! Das ist auch ganz schön hart. Hätte mich mit 10 Jahren auch mitgenommen. Garantiert!
Mich hat mein Vater in dem Alter mit zum Angeln genommen. Hab in den letzten Tagen öfter dran denken müssen. Nehme an, dass meine Haltung in dem Punkt und mein Wunsch nach Ehrlichkeit gegenüber meinen Kindern auch daher kommt, dass ich dort den Zusammenhang mit allen Sinnen erfahren habe. Dass man eben ein Tier vom Leben in den Tod befördern muss, wenn man sein Fleisch essen will.
Man kann und darf das Fleischessen grundsätzlich moralisch in Frage stellen. Man kann und darf auch so manche Methode industrieller Fleischproduktion in Frage stellen. Aber sich um das Thema zu drücken und es totzuschweigen, das finde ich falsch.
— Kleiner Nachtrag: Kennt jemand moderne Kinderbücher, besonders für kleine Kinder, in denen der Zusammenhang hergestellt wird zwischen Tieren und ihrem Fleisch? Eigentlich kann es doch nicht sein, dass das zu Zeiten der Schwarzen Pädagogik das letzte Mal thematisiert wurde, oder? Bin offen für jeden Tipp! Guckt doch mal bei euch ins Bücherregal … 😉
Bei uns steht keins, was sich intensiv damit beschäftigt. Bei den Astrid Lindgren Büchern kommt die Schlachtung (und z.B. Blutwurstherstellung) immer mal wieder vor. Immerhin ein Buch gibt es bei uns im Regal, in dem der Tod an Hand der kleinen Maus Malle thematisiert wird und wie ihr Fleisch danach Käfern, Ameisen und Bakterien als Nahrung dient. Ich würde am ehesten bei Bauernhofbüchern gucken.
Ah, Malle scheint ja auch nicht schlecht zu sein zum Thema „Realitäten des Lebens“. Bei unseren Bauernhofbücher ist vom Sterben nicht wirklich die Rede. Heute gerade vorgelesen: „Der Bauernhof*“ von „Meyers kleine Kinderbibliothek“. Da ist das höchste der Gefühle ein Satz wie „Menschen halten Haushühner wegen der Eier und des Fleisches“. Ich will nicht meckern. Dass Fleisch überhaupt erwähnt wird, ist ja schon mehr als in anderen Bauernhofbüchern.
Gerade heute ist mir aber noch was anderes aufgefallen: dass Kastration auch so eine unschöne Tatsache ist, über die man die Kinder später aufklären möchte. Auf der Rinderseite sind neben der Kuh noch zwei andere erwachsene Tiere dargestellt. Unter dem einen steht: „Der Stier ist der Mann der Kuh. Er ist leicht reizbar.“ Unter dem darunter: „Der Ochse wird wegen seines Fleisches gehalten. Er ist seelenruhig.“ Was schließen die Kinder daraus? Vielleicht, dass es bei allen Tieren zwei Geschlechter, nur bei Rindern drei? …