Dieser Text erschien im Januar 2015 im gemeinsamen Nachrichten-Portal von web.de, gmx und 1&1. Weil der Blogbereich dort jedoch im April 2018 eingestellt wurde, gibt es den Beitrag jetzt hier im Volltext (vorher waren hier nur Teaser und Link).
Ich dachte früher, natürliche Pflanzenschutzmittel seien generell besser als diese bösen, synthetischen Spritzmitteln. Heute weiß ich: Eine Superschurken-Entführung überlebt man mit solch fehlerhaftem Denken nicht.
Ein Gedankenexperiment: Nehmen wir mal an, ich sei Gefangene eines sadistischen Super-Schurken, der mich mit Pflanzenschutzmitteln quälen will. Er lässt mir aber die Wahl, mit welchem er mich besprüht. Wie wähle ich das für mich geringste Übel?
Hauptsache Bio?
Sage ich: „Oh bitte, Hauptsache, es ist natürlichen Ursprungs!“ weil ich denke, Natürliches ist für uns Menschen generell sanfter und harmloser als jede „Chemie“? Ich bin mir unsicher und studiere daher lieber im Internet heimlich die Pestizid-Liste der
Weltgesundheitsorganisation (WHO), bevor ich mich entscheide. In ihr sind die Pflanzenschutzmittel nach akuter Gefährlichkeit sortiert.
Ich bin dann froh, nicht irgendein biologisches Mittel verlangt zu haben. Denn diese sind mitnichten alle ganz unten bei den ungefährlichsten Mitteln, wie man das aufgrund der gängigen Vorurteile erwarten sollte. Ernüchtert stelle ich fest, dass sie sogar quer durch die Kategorien zerstreut sind. Nikotin etwa findet sich in Ib, also in der Gruppe der hochgefährlichen Pestizide. Das Biospritzmittel Rotenon wird in Klasse II eingestuft und
damit als moderat gefährlich. Spinosad, ein anderes Bio-Spritzmittel steht bei III (wenig gefährlich).
Klar, dass sich in jeder dieser Klassen auch eine Menge synthetischer Pestizide mit ähnlicher Gefährlichkeit finden wie die jeweiligen Bio-Pestizide. „Puh“, denke ich, „gut, dass ich noch mal nachgeschaut habe.“ Denn ob ein Stoff natürlich vorkommt oder
künstlich hergestellt wurde, ist ja für die Einschätzung der Gefahr völlig irrelevant. Wer hätte das gedacht?
Jetzt weiß ich: Eine wahre Heldin wählt in dieser Art Superschurken-Bedrängnis stets einen Stoff aus der untersten Gefahrenklasse der WHO – der Kategorie U. Völlig egal ob
künstlich oder natürlich. Bei diesen Pestiziden hält die WHO eine akute Gesundheitsgefahr für unwahrscheinlich. Gute Überlebenschancen also in der erzwungenen Spritzmittel-Dusche!
Wer sich an dieser Stelle gerade fragt, warum ich mir so alberne Superhelden-Geschichten ausdenke, hier die Alltagsvariante dieses Problems:
Gefährlicher Tabaksud
Letztens musste ich wieder dran denken, wie ich früher Zigarettenbrösel in Wasser eingelegt und mit der Brühe die Blattläuse an meiner Zimmerpflanze bekämpft habe. Das bringt sie zuverlässig um die Ecke. Begeistert war ich darüber aber nur, bis ich herausfand, dass Tabaksud – im Gegensatz zum Zigarettenrauch – Nikotin-Konzentrationen enthält, die auch für uns Menschen hochgiftig sind.
Wer sich schon mal mit Vergiftungsgefahren für Kinder beschäftigt hat, hat vielleicht gehört, dass für sie schon das Essen einer halben Zigarette lebensbedrohlich sein kann. Das gleiche gilt für Tabaksud. Trinkt ein Kleinkind etwa den Flüssigkeitsrest einer Limodose, in der Kippen gelöscht wurden, ist das nicht nur eklig, sondern eine
Todesgefahr. Eben weil eine tödliche Dosis Nikotin in der Limo-Pfütze gelöst sein kann.
Einige Todesfälle vor dem Verkaufsverbot
Aber Tabaksud ist nicht nur giftig, wenn man ihn trinkt. Wer die Brühe in eine Sprühflasche füllt um seine schädlingsgeplagten Rosen einzunebeln, dem drohen auch durchs Einatmen der Tröpfchen und durch Aufnahme des Nikotins über die Haut schwere Vergiftungen.
Bevor Tabak in den 70ern als Pflanzenschutzmittel verboten wurden, kam es immer wieder zu Todesfällen deswegen. Eine letale Dosis führt innerhalb von Minuten zur Atemlähmung.
Bedenkt man, wie gefährlich Tabaksud als rein pflanzliches Anti-Insekten-Mittel ist, sollte man meinen, Leute seien dankbar, wenn Ihnen in Internetforen Hinweise auf die Gefahr gegeben wird. Wenn man ihnen davon abgerät, weil dieses selbstgebraute Pestizid sie umbringen kann.
Doch von Dankbarkeit ist oft keine Spur. Eher reagieren sie mit der kopfschüttelnden Ungläubigkeit, mit der auch ich erst reagiert habe. Nach dem Motto: „Kann ja nicht so schlimm sein, oder? Sonst wäre doch Tabak als Genussmittel nicht frei verkäuflich!“
Oft kommen aber auch richtig wütende Antworten, so à la: „Was redest du? Das ist doch auf jeden Fall besser als diese Chemie-Gifte!“
Tatsächlich gibt es ein paar Pestizide aus der Chemie-Fabrik, die schlimmer sind als Nikotin-Brühe. Aber das sind gar nicht so viele. Und die schlimmsten sind inzwischen genauso verboten wie es Nikotin für diesen Zweck auch schon lange ist. Wer also gerade plante seinen nächsten Tabaksud anzusetzen, sollte wissen, dass jedes Pflanzenschutzmittel im Giftschrank des Baumarktes um die Ecke für unsere Gesundheit harmloser ist als diese Brühe.
So überraschend das auch klingen mag.
Ich habe gerade einen für mich ganz aufschlussreichen E-Mail-Austausch:
Ein Leser schrieb mir kopfschüttelnd, warum ich denn so „blumig“ schreiben würde bei einem Thema, dass seines Ermessens „keine Floskeln und Umschreibungen bräuchte, sondern nur klare Fakten“.
Ich schrieb zurück, dass ich finde, es könne gar nicht genug Formen geben, in denen Fakten präsentiert werden, und dass sich ja glücklicherweise jeder Leser in der großen Bandbreite an Texten da draußen rauspicken könnte, was ihm am meisten liegt – vom Forschungs-Paper bis zum unterhaltenden Science Slam, von der faktenorientierten Zeitungsnachricht bis zum ganz persönlichen Blick der Blogger.
Er schrieb zurück: „Nur, solche Themen, wie dieses BIO -Ding, wo es doch einzig und allein um die Feststellung „Nikotin ist gefährlich“ geht, braucht keinen „darstellerischen Hype“. Da ist nüchterne Info das Richtige.“
Da wurde mir klar, dass es doch um mehr geht als nur um Schreibstil und ob man nun nüchterne oder unterhaltende Darstellung von Fakten vorzieht. Das ist mein Versuch noch mal zu erklären, worum es mir geht:
Gibt es sanfte Pestizide? Der Pflanzenschutzmittel-Guide für Hobbygärtner…
…dieser Titel klingt verlockend, doch fragt sich der Interessierte Leser nach beendeter Lektüre: aha, und wo war jetzt der Guide? In diesem Sinne schließe ich mich sehr gerne dem von Ihnen zitierten E-Mail-Wechsel Kritiker an. Das einzige, was ich aus diesem Ihrem Artikel entnahm war die akute Giftigkeit des Nikotins. Ganz ehrlich, der Artikel ist hunds-miserabel recherchiert und ebenso auf den Weg gebracht worden. Ich stimme Ihnen ja gerne zu, daß die einfachen Kategorien nicht funktionieren (Bio gut, Synthetisch etc. schlecht), jeder der einmal einen Eiben-, Fingerhut- oder Knollenblätterpilzsalat genossen hat wird Ihnen in Punkto akuter Giftigkeit natürlicher (Bio-)Verbindungen zustimmen, oder halt auch nicht mehr. Meinen Sie denn nicht, daß auch der Letzte schon begriffen hat, daß es gefähliche natürliche Stoffe gibt, die einem schlell das Lichtlein ausblasen können? Das Problem liegt doch bei diesem Thema überhaupt nicht in der AKUTEN Giftigkeit; da könnte man genauso die akute Gefährlichkeit sämtlicher anderer im Haushalt befindlicher Chemikalien diskutieren. Beim Thema Pestizide geht es doch vielmehr um die Umwelt- und Gesundheitsschäden, die auf einer (Langzeit-) Anwendung basieren, also ihrer Umwelttoxizität (Stichwort hormonelle Disruptoren), sowie ihrer Persistenz (chemischer Langzeit-Stabilität) und Tendenz, sich in Nahrungsketten anzureichern. Nichts davon taucht in Ihrem Artikel auf. Das nenne ich unter dem Strich und gemessen an der Überschrift Desinformation und Volksverdummung. Für eine Biologin (und damit Person mit einer wissenschaftlichen Ausbildung) allerunterste Schublade. Schreiben Sie doch, wenn Sie sich an menschlichen Kategorien stören, über menschliches Kategorisieren. Aber eine schräge Informationslage mit so einem Artikel zu „bereichern“ hilft niemandem dabei Licht ins Dunkel zu bringen. Thanks for nothing.
Ich fürchte, Sie sind mit Ihrem Hauptvorwurf bei mir an der falschen Adresse. Bei meiner Zusammenarbeit mit web.de/gmx liegt das Formulieren von Überschriften nicht in meiner Hand, sondern liegt im Verantwortungsbereich der Redakteure dort. Sollte die Überschrift bei Ihnen Erwartungen geweckt haben, die der Text nicht erfüllt, kann ich daher diese Kritik nur an die dortige Redaktion weiterleiten, wenn Sie das möchten.
Es freut mich, dass Sie ansonsten zustimmen, dass die einfachen Kategorien nicht funktionieren. Sie scheinen aber anderer Meinung zu sein, was die Verbreitung dieser Information angeht. Sie meinen, dass „das schon der Letzte begriffen hat“. Ich wünschte ja, das wäre so. Leider deckt sich das so gar nicht mit meinen Erfahrungen. Weder im Bezug auf die Fehlinformationen, die ich selbst früher mit mir rumschleppte, noch in Bezug auf das, was mir heute bei Anderen begegnet. Und ich finde solche fehlerhaften Schubladen sind gerade für’s Bloggen immer ein schöner Ansatzpunkt.
Natürlich kann ich in einem kleinen Blog-Beitrag keine erschöpfende Abhandlung über Pestizide unterbringen. Auch nicht über Toxikologie im Allgemeinen. Ich wüsste aber auch nicht, wozu das notwendig sein sollte für die Frage, über die ich schreiben wollte. Im Gegenteil. Es gilt eher als guter Stil, seine Lesern gezielt nur mit den Infos zu versorgen, die sie für das Verständnis der Kern-Aussage benötigen. Aber mit mehr auch nicht.
Wenn ich Ihre Wut dazu richtig interpretiere, unterstellen Sie mir aber zusätzlich, ich hätte mit der akuten Giftigkeit ein Beispiel herausgezogen, dass eher eine Ausnahme darstellt als die Regel. Und dass ich dadurch die Gesamt-Realität verzerren würde.
Aber ist das wirklich so?
Wenn wir Pestizide wie in der WHO-Liste listen, nur eben nicht nach akuter, sondern nach chronischer Gefährlichkeit für den Menschen oder nach Umwelttoxizität, was würden Sie dann erwarten, dass rauskommt? Dass sich das Vorurteil natürlich=sanft dort dann bestätigt? Dass dann alle Bio-Spritzmittel ganz unten auf der Liste stehen, weil sie doch wirklich stets harmloser sind als alles Künstliche?
Wirklich?
Na, dann: hören Sie auf mich zu beschimpfen und versuchen mich stattdessen zu überzeugen! Ich bin gespannt auf Ihre gründliche Recherche zu diesem Thema. Ich erwarte aber etwas ähnlich Seriöses wie die Infos aus der WHO-Liste (die Sie übrigens hier finden: http://www.who.int/ipcs/publications/pesticides_hazard_2009.pdf?ua=1)
Richtig, gemessen an der Überschrift wurde der Leser nicht einmal annähernd informiert. Also ja, geben Sie das gerne an die Redaktion von GMX weiter. Leider habe ich keine Zeit, Ihrer Aufforderung nachzukommen und mir das Päckchen einer ordentlichen Recherche aufzubinden. Das war eigentlich das Ihrige. Die von Ihnen verlinkte Liste der WHO bezieht sich auf die akute Toxizität oral verabreichter Verbindungen (an Ratten; der LD50 Test steht im Übrigen selbst recht stark in der Kritik, aber das ist noch ein anderes Thema). Wie gesagt, ich finde, daß Sie unter dem Strich stark am Thema vorbei schreiben und gar desinformieren, denn meiner Meinung sollten Aussgaen zur Langzeit-Umwelttoxizität etwaiger Verbindungen im Fokus eines solchen Artikels stehen. Die akute Toxizität ist vernachlässigbar, denn die wenigsten werden sich die frisch im Baumarkt erstandene Pestizid-Suppe in den Kaffee schütten. Nehmen sie einmal Kochsalz: was meinen Sie, wieviel davon ausreicht, Sie umzubringen? Und in kleinen Dosen täglich?
Ganz richtig, da synthetische Stoffe oft unter besonderen Bedingungen synthetisiert werden, sind sie sehr oft sehr umweltstabil und werden weder durch UV, noch durch Bakterien abgebaut. Durch ihre oft lipophilen Eigenschaften reichern sie sich über die Jahre in Nahrungsketten an und konzentrieren sich am Ende der Nahrungskette zu recht problematischen Gehalten hoch. Nikotin ist sicherlich eines der stärksten Nervengifte, die wir kennen. Aber verteilen sie davon doch einmal eine Tonne auf einem Versuchsacker und testen das ganze nach zehn Jahren im Vergleich zu einer Tonne DDT, die sie auf dem Nachbaracker verbracht haben. Da viele der biologischen Produkte auch natürlich „synthetisiert“ wurden, gehe ich davon aus, das sie sich durch Umwelteinwirkungen auch recht schnell in ihre ungefährlicheren Bestandteile auflösen. Und genau da ist mein Punkt. Nocheinmal: wenn Sie die akute Toxizität dieser Mittel ansprechen, müssten eine ganze Reihe anderer Haushaltsmittel ähnlich diskutiert werden, denn akute Giftigkeit gibt es in einem üblichen Haushalt genug. Da es aber immernoch recht viele Menschen auf diesem Planeten gibt, während letzterer immer stärker leidet, denke ich, dass auch Sie verstehen werden, das akute Toxizität das kleinere der hier diskutierten Übel ist. Wenn ich im Arktischen Ozean in 500 Metern Tiefe verschiedenste Pestizide in nicht unbedenklichen Konzentrationen in diversesten Tierarten finde und kein Nikotin, was sagt Ihnen das? Das wir mehr synthetische Mittelchen benutzen sollten? Das Problem ist doch: wissenschaftlich gesehen funktionieren die Kategorien nicht, aber für den Laien, der wirklich andere Dinge (oder auch keine) als z.B. Ökotoxikologie im Kopf hat, funktioniert es halt eben doch, denn ganz recht: unter dem Strich ist die Wahrscheinlichkeit, mit einem biologischen Produkt weniger (Umwelt-)Schaden anzurichten bei weitem geringer, als mit einem syntethischen. Und wenn dieser Laie Ihren Artikel liest, fühlt sich der Wenigdenker einfach einmal mehr bestätigt in „ach; Bio-ist doch eh nur Lug und Trug und Ausnehmerei“. Das ist das gefährliche an ebensolchen Artikeln….
Das mit der Überschrift gebe ich weiter. Was das Andere angeht, kann ich Ihnen nicht zustimmen. Weder kann ich sehen, warum akute Giftigkeit irrelevant sein sollte bei Stoffen, mit denen vielleicht zu lax umgegangen wird wegen zu positiver Vorurteile, noch teile ich die Auffassung, dass irgendwas so heilig ist, dass man nicht über beliebige Teilbereiche Tacheles reden können sollte. Ich finde es ehrlich gesagt sogar ziemlich zynisch, den Leuten solche womöglich lebensrettenden Informationen vorenthalten zu wollen, nur weil man meint, einfache Gemüter würde das sonst vom rechten (Bio-)Pfad abbringen. Das finde ich schon eine bedenkliche Argumentation, die mich eher darin bestärkt, dass es wichtig ist, sich von dem Denken in diesen Schubladen zu lösen.
Denn es geht mir mitnichten darum, Bio zu bashen und Synthetisches auf den Thron zu heben, obwohl Sie das zu meinen scheinen. Es geht mir stattdessen darum, in Frage zu stellen, ob diese ganz Einteilung uns überhaupt was bringt. Der Schaden und der Nutzen von Stoffen für unsere Zwecke ergibt sich ja nicht automatisch aus ihrer Herkunft, sondern aus ihren davon völlig unabhängigen physikalisch-chemischen Eigenschaften. Klar, DDT reichert sich in der Nahrungskette an und richtet am Ende der Nahrungskette dann entsprechenden Schaden an. Deswegen wurde es verboten. Aber hat es diese Eigenschaft, weil es synthetisch ist? Nein, denn es gibt zahlreiche andere synthetische Pestizide, die viel weniger persistent sind. Und auf der anderen Seite gibt es ja auch Bio-Spritzmittel, die sich durchaus anreichern, wie Kupfer.
Mich würde aber auch mal eine große Übersicht interessieren. Schade, dass Sie sich nicht die Mühe machen wollen, nach einer Liste der Pestizide zu suchen, die z.B. nach dieser Persistenz und der Ökotoxikologie rankt, in der wir schauen könnten: Wo stehen die verschiedenen Bio-Spritzmittel im Vergleich zu den synthetischen? Das wäre doch interessant. Oder nicht? Wenn Sie sagen, dass ist das allerwichtigste Kriterium und dazu behaupten, dass die biologischen Mittel generell weniger Umweltschaden anrichten, dann hätte ich doch gerne Beweise, muss ich sagen. Mir ist der reine Glaube daran nämlich abhanden gekommen.