Mit Verdauungsdetails in die deutschen Bestsellerlisten: „Darm mit Charme“ ist ein Phänomen

Dieser Text erschien im Januar 2015 im gemeinsamen Nachrichten-Portal von web.de, gmx und 1&1. Weil der Blogbereich dort jedoch im April 2018 eingestellt wurde, gibt es den Beitrag jetzt hier im Volltext (vorher waren hier nur Teaser und Link).

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Ich erinnere mich noch gut, wie ich einmal erschreckt aus der Hobbythek wegzappte, weil Jean Pütz von seinen Hämorrhoiden erzählte. Bisher mochte ich es nämlich nicht, wenn Leute außerhalb der engsten Familie mir auch nur irgendwas über ihren Darm mitteilen.

Umso erstaunter war ich, dass das bei Giulia Enders anders ist. Die junge Ärztin durfte mir in ihrem Buch „Darm mit Charme“ nicht nur in aller Breite Dinge erklären, die ich sonst eklig und peinlich finde. Nein, ich fand das auch noch außerordentlich unterhaltsam. Ja, ich kann mich sogar an kein Sachbuch vorher erinnern, bei dem ich so viel gelacht hätte.

Dabei macht Enders keine billigen Fäkalwitze. Es geht ihr um Wissensvermittlung. Sie behandelt Tipps im Umgang mit Darmproblemen genauso wie Grundlagen der Darmfunktion und ungeklärte Fragen der aktuellen Forschung. Aber die Art und Weise wie sie das tut, ist erfrischend anders als in Büchern mit ähnlichem Anspruch.

Der frische Wind erklärt sich aus der Kultur der Science Slams, die sich in den letzten Jahren wachsender Beliebtheit erfreuen. In diesen Wettbewerben treten Wissenschaftler an, um ihr Forschungsgebiet in möglichst amüsanten Kurzvorträgen vorzustellen. Enders gewann 2012 die Science Slams in mehreren Städten mit ihrer speziellen Gute-LauneMischung aus ansteckender Neugier, naiver Leichtigkeit und entwaffnendem Mädchencharme.

„Darm mit Charme“ funktionierte also schon auf der Bühne und  wurde auch bei Youtube ein Hit. Der Erfolg des Buches zeigte dann „nur“ noch, dass ihr Science-Slam-Stil auch in lang und gedruckt gut ankommt. Er bewies, dass es auch das Sachbuch-Publikum liebt,
wenn über Kot-Konsistenzen, Bakteriengesellschaften und ihre therapeutische Verpflanzung in andere Därme ganz leichtfüßig geplaudert wird.

Sicher gibt es Leute, in deren Augen die Seriosität leidet, wenn flapsig über Medizinisches geredet wird. Wenn eine junge Forscherin blumig über die Wissenschaft der Abführmittel
schreibt oder über die interessante Mechanik des Kotzens oder wie aus Präbiotika Pupse entstehen – und das auch noch mit lustigen Comic-Zeichnungen ihrer Schwester garniert. Öfter aber scheint es den Leuten so zu gehen wie mir, dass gerade dieser Stil ihnen hilft,
sich den Verdauungsorganen mal wohlwollend interessiert zu nähern, statt mit Scheu und Scham.

Schon eine kurze Internetsuche zeigt, dass auch viele Mediziner diesen Abbau von Hemmungen begrüßen. Ein Gastroenterologen-Team lobt das Buch auf ihrer Webseite als „Pflichtlektüre für Darmbesitzer“, Proktologen laden Enders zu ihren Fortbildungsveranstaltungen ein, ein Internist zitiert in seinem eigenen Vortrag ihre geradezu poetischen Beschreibungen der Darmentleerung. Die neue Offenherzigkeit scheint also auch Ärzte zu beflügeln.

Übrigens enthält das Buch auch für Jean Pütz und seine Leidensgenossen Wissenswertes. Enders erklärt darin nämlich auch, welche Sitzhaltung auf dem Klo Hämorrhoiden begünstigt und wie man durch eine mehr hockende Stellung vorbeugen kann. Früher hätte ich vielleicht entsetzt ausgerufen: „Oh, nein, bitte keine Details!“ Aber neuerdings will ich sie doch hören, die Details. Denn sie sind wirklich erstaunlich interessant.

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