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Jetzt sind die Bäume schon ganz kahl. Und ich vermisse die herbstliche Pracht an den Ästen sehr – besonders die rot gefärbten Blätter, die so schön rausleuchten zwischen den grünen und gelben.
Pararadox eigentlich diese Vorliebe von mir, denn für die Bäume selbst scheint die rote Herbstfärbung gerade eine Strategie zu sein, um WENIGER attraktiv zu wirken – zumindest für Blattläuse.
Ich habe mich die letzten paar Wochen jeden Tag gefreut, dass mein Weg zum Kindergarten am Stadtpark vorbeiführt. Die bunten Blätter! Die Farbkombinationen! Es war ein wunderschöner Goldener Oktober. Auf dem Rückweg vom Kindergarten konnte ich mit meinem Kleinen (5) Kastanien und Eicheln sammeln, durch Laubberge fahren und die hübschesten Blätter sammeln (für mich immer die roten, etwa die von den amerikanischen Eichen-Arten im Park).
Zeitgleich, aber völlig unbemerkt von uns waren auch die kleinen Blattlaus-Eltern in diesen schönen Wochen unterwegs – ebenfalls in Sachen Nachwuchs übrigens. Denn im September und Oktober ist Paarungszeit bei den Blättläusen. Und die Blattlaus-Mamas suchen danach fleißig nach Wirtspflanzen für ihre Nachkommen.
Die Blattlaus-Mama lernt ihre Kinder ja nie kennen. Nur die Eier, die sie legt, werden den Winter überstehen. Doch sie sorgt für ihre Nachkommen, indem sie ihre Eier ganz nah an die künftigen Nahrungsquellen legt – an die Knospen und in die Rindenspalten der richtigen Bäume. So haben es die schlüpfenden Blattlaus-Kinder nicht weit bis zu den leckeren Pflanzensäften, wenn die Bäume im Frühjahr austreiben.
Im Interesse des jeweiligen Baumes ist dieses Treiben – man ahnt es – natürlich nicht. Zum Ei-Ablageplatz für Blattläuse zu werden ist definitiv nicht wünschenswert. Denn was für den Menschen die Blutsauger sind – Mücken, Flöhe, Bettwanzen – das sind für den Baum die Pflanzensaft-Sauger. Wobei das Schlimmste nicht mal der Klau von Ressourcen ist, sondern die mögliche Übertragung von Krankheiten beim Saugen. Wie bei uns ja auch.
Aber wie verhindert man als Baum von Blattläusen befallen zu werden? Man kann seinen Pflanzensäften Stoffe hinzufügen, die ihnen schaden. Aber vielleicht kann man sogar gleich verhindert, dass die Blattlaus-Eltern im herbstlichen Hochzeits-Taumel angeflogen kommen und auf einem ihre Eier ablegen. Aber wie?
Immer mehr Pflanzenforscher gehen inzwischen davon aus, dass die herbstliche Rotfärbung von Blättern eine in der Evolution entstandene Methode mancher Baum-Arten sein könnte, genau das zu tun, nämlich Blattläuse abzuwehren. Tatsächlich konnten Forscher in den letzten Jahren zeigen, dass Blattläuse lieber zu Bäumen mit gelben Blättern fliegen. Rote Blätter haben nicht direkt eine abschreckende Wirkung auf Blattläuse, aber man kann nachweisen, dass sie für sie deutlich weniger attraktiv sind als gelbe und grüne Blätter.
Die Forscher gehen davon aus, dass diese Vorliebe der Blattläuse für gelbe Blätter sich ebenfalls evolutionär ausgebildet hat. Wenn man nämlich vergleicht, wie der Blattlaus-Nachwuchs im Frühjahr an verschiedenen Bäumen gedeiht, dann stellt man fest, dass tatsächlich die Blattlaus-Jugend an Bäumen mit rotem Herbstlaub nicht so erfolgreich wächst und sich vermehrt wie die Blattlaus-Jugend an Bäumen mit gelbem Herbstlaub.
Rote Herbstfärbung scheint also ein Signal der Bäume an die Blattläuse zu sein. Ja, es scheint sogar eine ernstgemeinte Drohung zu sein nach dem Motto: Geh‘ weg oder du wirst es büßen! Ich werde mich wehren! Deine Blattlaus-Kinder werden es NICHT gut haben bei mir!
Die sogenannte Co-Evolution-Theorie der Herbstfärbung sorgt noch für jede Menge Debatten unter Pflanzenforschern. So ganz glauben wollen es einige noch nicht. Es gibt auch konkurrierende Theorien. Aber die Co-Evolutions-Theorie ist die am besten untersuchte und ihre Verfechter sammeln beständig neue Hinweise, die ihre Theorie stützen.
Eine gute Theorie zur Herbstfärbung wird auf jeden Fall benötigt. Früher dachte man, dass die Herbstfärbung einfach Nebenprodukt des jährlichen Blatt-Abwurfes ist. Und für die gelbe Herbstfärbung scheint das auch so zu sein. Bevor Bäume ihre Blätter abwerfen, holen sie alles aus ihnen heraus, was sie im nächsten Jahr recyceln können – das sind vor allem die Bestandteile des grünen Blattfarbstoffs. Übrig bleiben ein paar gelbe Pigmente, die vorher auch da waren, aber vor lauter Grün nicht zu sehen waren.
Bemerkenswert und erklärungsbedürftig ist aber, dass einige Bäume ihre Blätter eben nicht von grün zu gelb wechseln lassen, sondern von grün zu rot. Wie man in den 1970ern herausfand, sind diese roten Farbstoffe – anders als die gelben – keine Reste, die am Ende des Abbaus übrig bleiben. Dieses Rot wird extra neu produziert! Ein lange rätselhaft erscheinendes Verhalten. Warum sollten diese Bäume Energie investieren in Blätter, die sie eh‘ bald abwerfen?
Die Co-Evolutions-Theorie der Herbstfärbung sagt: Sie tun das, weil sie damit den Blattläusen das Signal senden lieber woanders hinzufliegen für die Eiablage. Ähnlich wie rote Käfer mit der Farbe Räuber davor warnen, sie zu fressen (Achtung, ich bin giftig!)
Aber warum machen das dann nicht alle Bäume so?
Eine mögliche Antwort auf diese Skepsis findet sich in Hinweisen, dass sich vor allem diejenigen Bäume diesen Aufwand leisten, die besonders anfällig sind für Krankheiten, die von Blattläusen übertragen werden. Die evolutionäre Entwicklung einer solchen Blattlaus-Abwehr scheint sich also besonders zu lohnen, wenn es nicht mehr nur um lästiges Saftsaugen geht, sondern um die Vorbeugung von gefährlichen Krankheiten.
Aber was heißt das für mich? Werde ich die Bäume mit rotem Herbstlaub in zukünftigen Jahren anders anschauen – vielleicht sogar mitleidig, weil mir erst klar ist, wie sehr ihre Vorfahren vielleicht gebeutelt wurden von bakteriellen oder viralen Pflanzenkrankheiten? – Nein, ich glaube nicht. Ich werde mich – wie jedes Jahr – einfach freuen, dass ihre baumeigene Schädlingsabwehr so außerordentlich hübsch aussieht…
Quellen:
• Autumn leaves seen through herbivore eyes
• Evidence from the domestication of apple for the maintenance of autumn colours by coevolution