Für Evidenz statt Eminenz – 20 Jahre Cochrane

20anniversaryBannerIch möchte euch heute die Cochrane Collaboration vorstellen, die dieses Jahr ihr 20-jähriges Jubiläum feiert. Sie ist eine der wichtigsten Organisationen für Evidenz-basierte Medizin weltweit und beeindruckt mich durch ihre Vision und den egalitären Grundgedanken. Es geht ihr um die Qualität medizinischen Wissens. Seit zwei Jahrzehnten machen ihre Ärzte die klinische Forschung wissenschaftlicher, transparenter und zudem für jeden verfügbar. Übrigens ein Erfolg, der ohne Internet nicht möglich gewesen wäre.

Ich habe die Cochrane Collaboration durch zwei Artikel kennengelernt, die ich vor einigen Jahren für’s Laborjournal über klinische Forschung geschrieben habe. Als Biologin war mir  der Grundlagen-Zweig der medizinischen Forschung vertraut und zugänglich, bei dem es um molekulare Erklärungen geht, etwa zu Krankheitsursachen oder das Wirken von Medikamenten. Der andere, klinische Teil der Medizinforschung ist eine ganz andere Welt, in die ich mich erst einarbeiten musste. In dieser – für die Medizin meiner Meinung nach zentraleren – Forschung geht es nicht um Erklärungen, WIE etwas wirkt, sondern nur um den Nachweis, DASS es wirkt (oder auch nicht wirkt). Ich hab die interessanten Gespräche mit Gerd Antes, dem Leiter des Deutschen Cochrane-Zentrums, die ich in dem Zusammenhang führte, in sehr guter Erinnerung. Er war sehr hilfreich, mir die Methoden zu vermitteln, mit denen die Wirksamkeit von Therapien oder anderer medizinischer Interventionen untersucht wird.

Seit dieser Zeit bin ich auf dem E-Mail-Verteiler von Gerd Antes, mit dem er Journalisten mit Anregungen versorgt, was sie sich mal näher anschauen könnten im deutschen Gesundheitswesen oder wo der deutsche Medizinjournalismus besser werden sollte. In Sachen Öffentlichkeitsarbeit haben die Mails an mich ihm in dieser Zeit nicht so viel genützt, weil ich in Babyland und Hausfrauen-Freuden abgetaucht war, aber sie haben definitiv geholfen, die Organisation in meinem Hinterkopf zu verankern.

Jedenfalls sind diese Presse-Mails nicht ganz unschuldig daran, dass ich in diesem Jubiläumsjahr schon mehrmals auf den Cochrane-Seiten war. Gestern Abend zum Beispiel habe ich mir ein paar Youtube-Videos (englisch) angeschaut über die Geschichte der Cochrane Collaboration und bin ganz beseelt gewesen von der Atmosphäre und dem Geist dieser sehr internationalen Bewegung. In den Videos beschreiben Ärzte aus aller Welt begeistert, wie sie Teil dieser Gemeinschaft wurden und was sie daran so erstaunlich finden.

So berichten viele der beteiligten Forscher in den Videos von ihrem Erstaunen über die Aufnahme in der Cochrane Collaboration. Dass sie von Anfang an ernst genommen wurden und mit Unterstützung, Respekt und Freundlichkeit behandelt wurden, auch wenn sie jung oder aus einem Entwicklungsland oder „nur“ ein Patientenvertreter waren.

Das zeigt im Umkehrschluss, dass das in der Medizin ungewöhnlich ist. Dass deine Stimme sonst abhängt von deinem Status in der Hierarchie, dass Macht und Geld entscheidend ist. In solchen Strukturen zählt gerne DAS als Wahrheit, was das etablierte, erfahrene Alpha-Männchens verkündet, sprich: was die Arbeitsgruppe von Eminenz Prof. Dr. Dr. Blablabla in der Traditionsklinik Tralala dazu herausgefunden hat. Dass Andere zu anderen Ergebnissen kommen, hat wenig Gewicht, außer sie gehören einer anderen starken Gruppe an.

Wie das komplette Gegenkonzept dieses hierarchischen Modells wirkt da der Grundgedanke der Cochrane Collaboration. Ihr Ziel ist es, für medizinische Interventionen jeweils ALLE verfügbaren Daten statistisch zusammenzufassen – ALLE klinischen Studien, die je zu dem Thema durchgeführt wurden, zu analysieren und in einem systematischen Review  zu EINER Aussage zu kommen, ob die Therapie oder das Präventionsprogramm  empfehlenswert ist oder nicht.

In den Cochrane Reviews fließen die Ergebnissen der Alpha-Profs und ihrer geschätzten Kollegen ein, aber eben auch die von weniger bekannter Ärzten, von Nachwuchsgruppen oder gar von klinischen Forschern aus weniger reichen Ländern. Nicht Renommée und Ansehen entscheidet, sondern die Daten-Qualität der klinischen Studie. Wird sie aufgenommen, dann steht sie gleichwertig neben den Ergebnisse anderer Forschergruppen. So viel Egalität war in der Medizin eine Ausnahme (und ist es leider oft immer noch).

So egalitär wie Menschen und Daten behandelt werden, so egalitär soll auch der Zugang zu den Ergebnissen sein. Zwar ist der Online-Zugang zu den Systematischen Reviews in Deutschland (und anderen Industrie-Nationen) kostenpflichtig, weil die Gebühren eine wichtige Einnahmequelle für die gemeinnützige Cochrane Collaboration sind. Die Kosten sollen aber nicht als Barriere wirken. In Ländern mit kleinem und mittleren Einkommen sind die Daten daher frei verfügbar.

Also Leute, wenn ihr euch heute mal zur Abwechslung nicht von schlechten Nachrichten deprimieren lassen wollt und stattdessen auf der Suche seid nach Inspiration und den guten Nachrichten der letzten Jahrzehnte, dann kann ich euch nur ein paar der Cochrane-Videos empfehlen und ans Herz legen. Auch wer das auf Englisch anstrengend findet, muss sich nicht abschrecken lassen, denn Google Translate liefert ganz passable deutsche Untertitel (einstellbar über das Untertitel-Menü bei Youtube).

Und noch was: Hätte sich jemand vor Entstehung des Internets vorgenommen, das modernste medizinische Wissen über die Wirksamkeit von Therapien zusammenzufassen und jedem auf der Welt zugänglich zu machen – er wäre wohl für verrückt erklärt worden. Es wäre schlicht nicht vorstellbar, Wissen in solchem Umfang in Papier-Form in die entlegensten Orte der Welt zu bringen. Wer hätte das bezahlen sollen? Vor allem im Anbetracht dessen, dass jedes Buch veraltet ist, bevor es überhaupt den ersten Leser erreicht? Umso schöner, dass es das Internet jetzt ermöglicht, weltweiten Zugang zu stets aktuellem Wissen zu schaffen, das überall benötigt wird. Wenn das nicht das Gegenteil von Digitaler Demenz ist, dann weiß ich auch nicht… 😉

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2 Gedanken zu „Für Evidenz statt Eminenz – 20 Jahre Cochrane“

  1. Das Buch „Wo ist der Beweis?“

    http://www.amazon.de/Wo-ist-Beweis-Pl%C3%A4doyer-evidenzbasierte/dp/3456852452

    ist jetzt bis auf Unterkapitel hinunter gegliedert auf der Webseite

    http://www.testingtreatments.org

    oeffentlich zugaenglich.

    Damit wird eine enorme Luecke an guten deutschprachigen erklaerenden Texten in diesem Themenfeld verkleinert.

    In Aus-, Fort- und Weiterbildung kann vor allem auch in EDV-gestuetzten Kursen direkt auf einzelne Kapitel oder Beispiele
    verlinkt werden.
    Z. B. bzgl. des Innovationshypes auf das Kapitel „Neu – aber auch besser?“

    http://de.testingtreatments.org/tt-main-text/1-neu-aber-auch-besser/

    oder bzgl. der missratenen „Vorsorge“-Debatte auf das Kapitel „Frueher ist nicht zwangslaeufig besser“
    http://de.testingtreatments.org/tt-main-text/4-frueher-ist-nicht-zwangslaeufig-besser/

    Bei letzterem ist ein besonders eindrucksvolles Beispiel das Neuroblastom – Screening bei Kindern
    http://de.testingtreatments.org/tt-main-text/4-frueher-ist-nicht-zwangslaeufig-besser/lehren-aus-dem-neuroblastom-screening/

    an dem man alle Tuecken falscher Weisheiten bzgl. Screening erkennen kann. Das ist uebrigens auch eins der wenigen
    Beispiele, zu denen aus Deutschland entscheidende Beitraege kamen.

    Ein wesentlicher Wert der Webseite ist neben den allgemeinen Aussagen vor allem die Fuelle an Beispielen, von denen
    viele in Deutschland nicht bekannt sind.

    Mit besten Gruessen Gerd Antes

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