Manchmal schreibt das Leben Geschichten mit enttäuschendem Ende. Selbst die, deren Unschuld bewiesen wurde, kann sich nicht mehr daran freuen. Aktenzeichen XY ungelöst für Insekten-Täter.
Wir waren beide ganz aufgeregt. Eine befreundete Mutter hatte mir den mutmaßlichen Übeltäter mitgebracht. Am Abend zuvor hatte sie das Insekt zur Strecke gebracht. Nun lag das Tier im Kinder-Lupenglas zwischen uns. Verschwörerisch grinsten wir uns an bei unserer Übergabe auf dem Spielplatz. Ich versprach einen lang überfälligen Besuch an der Uni zu nutzen um die Identität des Angeklagten zu überprüfen.
Dem Insekt wurde vorgeworfen, ihre Tochter nachts im Bett gestochen und dabei mit Streptokokken oder anderen Bakterien infiziert zu haben. Nach dem Stich hatte sich der berühmte, dunkle Strich unter der Haut gebildet, den man früher für den Beginn einer Blutvergiftung hielt. Der Strich ist zwar, wie man heute weiß, „nur“ das Zeichen eines entzündeten Lymphgefäßes. Alarmierend ist eine solche Lymphangitis trotzdem, denn eine Ausbreitung der Infektion könnte gefährlich sein. Der Arzt verschrieb also Antibiotika. Sie brachten den Strich zum Verschwinden.
Doch wenige Wochen später geschah das Gleiche noch mal. Wieder ein Stich. Wieder dieser dunkle Strich. Wieder das mütterliche Ohnmachtsgefühl, die Tochter nicht schützen zu können gegen einen unbekannten, infektiösen Blutsauger, der sich irgendwo in der Wohnung versteckt. Furchtbar! Umso größer war das Triumphgefühl der Mutter als sie dieses unbekannte Insekt in der Wohnung erschlug. „Das muss es gewesen sein! Sonst fliegt im Winter doch nichts rum!“ Und überhaupt, so ein Insekt hatte sie noch nie bei sich gesehen!
Der Arzt hatte vorher vermutet, der Stich könne von einer Kriebelmücke stammen, die in einer Ritze der Wohnung überwintert. Mit diesem Verdacht fuhr ich nach Erlangen und setzte ich mich nach Jahren wieder mal an ein Bino. Ich stellte scharf und – war verdutzt. Bei einer Mücke erwartet man zwei Flügel, gehört sie doch wie die Fliegen zu den Diptera, den Zweiflüglern. Wo bei anderen Insekten ein zweites Flügelpaar ist, haben die Dipteren ein paar Schwingkölbchen, die ihnen beim Navigieren helfen. Doch nicht dieses Insekt. Es hatte vier prächtige Flügel und das charakteristische Halsschild einer Wanze, nein halt, einer Zikade. Einer Zikade? Ja, einer Zikade!
Eine Zikade mitten im Winter ist ein seltsamer Fund. Ihre Anwesenheit ist höchst verdächtig. Und doch muss man sie post mortem von jeglichem Verdacht rein waschen. Mit dem Stich und der Infektion des Mädchens kann sie nichts zu tun zu haben. Auch Jürgen Schmidl, Ökologe und Insekten-Bestimmungsexperte der Uni, kann nur an einen merkwürdigen Zufall glauben. Was auch immer die Zikade in diese Wohnung verschlug, Blutdurst kann es nicht gewesen sein. Denn Zikaden sind alle und ausnahmslos Pflanzen-Sauger. Kein Exemplar dieser Vegetarier-Gruppe interessiert sich auch nur im mindesten für unsere menschlichen Säfte.
Tja, so ging sie dahin, die schöne Hypothese und mit ihr auch der Triumph der Mutter, das Übel besiegt zu haben. Leider. Ich hätte gern eine andere Geschichte erzählt.