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Masern-Misere – wer ist schuld?

Dieser Text erschien im März 2015 im gemeinsamen Nachrichten-Portal von web.de, gmx und 1&1. Weil der Blogbereich dort jedoch im April 2018 eingestellt wurde, gibt es den Beitrag jetzt hier im Volltext (vorher waren hier nur Teaser und Link).

Die größte Gruppe mit Impf-Lücken? Flüchtlinge? Grüne Esoteriker? Nein, meine Generation!

Wenn man will, lässt sich der aktuelle Masern-Ausbruch in Berlin wunderbar in Feindbild-Schablonen betrachten. Wer dazu neigt zu denken, dass Gefahren grundsätzlich von Ausländern ausgehen, kann mit bedeutungsschwangerem „Siehste!“Gesicht betonen, dass der Masernausbruch diesmal von einem Flüchtlingsheim ausging.
Und wer die grünalternative Szene gerne für alle Übel der heutigen Zeit verantwortlich macht, empört sich – mit einen ebensolchen „Siehste!“-Gesicht über die Wissenschaftsferne der dort kursierenden Impfmythen.

Nicht nur Flüchtlinge ohne Impfung

Beides ist nicht ganz falsch. Aber ganz richtig ist es eben auch nicht. Zwar nahm der Ausbruch tatsächlich unter bosnischen Flüchtlingen seinen Anfang, weil es bei ihnen aufgrund des Jugoslawien-Krieges Generationen gibt, die unzureichend geimpft sind. Und klar verbreiten sich die Masern besonders rasant, wo die Impfrate aus weltanschaulichen Gründen niedrig ist – wie etwa in Waldorfschulen, bei bestimmten Religionsgemeinschaften oder in Stadtteilen mit hoher Eso-Öko-Quote.

Trotzdem ärgert es mich, wenn der Masernausbruch genutzt wird um diese Gruppen zu diffamieren. Denn ihre Beteiligung ist nur ein Aspekt der Geschichte. Es gibt andere Aspekte, die viel wichtiger sind, wenn es darum geht, für sich selbst die richtigen Entscheidungen zu treffen, finde ich. Es gibt nämlich eine noch viel größere Gruppe, die einen sensationell niedrigen Schutz gegen Masern hat. Und zu der gehört man unter Umständen sogar selbst!

Deutschland ist schlecht geimpft

Wer das ist? Na, ganz allgemein die Erwachsenen bis 45. Ja, wirklich: Bei einem Viertel der Leute, die Anfang 40 sind, fehlt der komplette Masernschutz. Bei den 30-Jährigen ist sogar nur die Hälfte vollständig vor der Krankheit geschützt.

Das ist plusminus meine Generation. In der wurden viele noch nicht gegen Masern geimpft. Oder nur einmal. Was nicht reicht. Anders als in den Generationen vor uns, haben wir die Krankheit aber trotzdem nicht mehr  zwangsläufig selbst bekommen. Denn Masern-Ausbrüche wurden in unserer Kindheit seltener. Wer älter war als wir, hatte die Krankheit durchgemacht und war deshalb immun. Und wer jünger war als wir, war zunehmend geimpft. Es baute sich also ein Herdenschutz um uns auf, der die Ungeimpften schützte.

Babys unter Herdenschutz

Bei jetzigen Ausbrüchen besteht daher oft die Hälfte der Betroffenen aus Erwachsenen. Man könnte das beruhigend nennen, weil es bei Masern-Erkrankungen bei Erwachsenen weniger häufig zu Todesfällen kommt. Alarmierend wird es aber, wenn man bedenkt, dass diese nur lückenhaft geimpften Leute ja die Mütter und Väter der gerade geborenen Kinder sind (oder ihre Tanten, Onkel usw.). Und diese Kinder sind sehr wohl durch schwere
Verläufe der Masern gefährdet. Vor allem, wenn sie  Vorerkrankungen haben. Und meine Generation bietet diesen momentan geborenen Babys bei Ausbrüchen keinen besonders
guten Herdenschutz.

Auf einen solchen Herdenschutz sind die Babys im ersten Lebensjahr aber weiterhin angewiesen. Sie können nämlich frühestens mit 9 Monaten selbst gegen Masern geimpft
werden. Bis dahin hilft ihnen nur, dass Vater, Mutter, Tanten und Onkel selbst geimpft sind und sie deshalb bei einem Ausbruch nicht anstecken. Auch ältere Kinder, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können – etwa weil sie eine chronische Krankheit haben – müssen darauf hoffen, dass Geimpfte um sie herum einen Schutzwall gegen die Krankheit bilden.

Falsche Feindbilder

Wenn wir uns – statt über dieses Sandwich-Generationen-Problem zu sprechen – vor allem über Zustände in Flüchtlingsheimen oder hanebüchene Impfgegner-Ideologie empören, läuft etwas schief, finde ich. Zum einen tut man Einzelnen durch die Lästereien oft
Unrecht. Es gibt auch an Waldorfschulen eine Menge Eltern, deren Kinder regulär geimpft sind. Und es gibt Flüchtlinge, die eine bessere Durchimpfungsrate haben als Deutsche.

Zum anderen lenken diese Geschichten von Lösungen des Problems ab. Wenn wir den Ausbruch benutzen, um über unser Lieblingsfeindbilder herzuziehen – egal ob das nun Ausländer sind oder die Öko-Eso-Szene ist, erwecken wir den Eindruck, wir könnten gegen die Probleme nur was tun, wenn wir zum Beispiel Leute zu Impfungen zwingen, denen sie misstrauen. Dabei gibt es ja Aspekte der Masern-Misere, die man als Impfbefürworter unter Umständen selbst beeinflussen kann und dann auch sollte.

Eltern brauchen Impfschutz

Ich jedenfalls bin überzeugt: Wenn alle werdenden und jungen Eltern ihren eigenen Impfschutz überprüfen würden und auch mit ihrem Umfeld darüber reden würden, dann wäre wesentlich mehr erreicht als mit der jetzt betriebenen Abwertung bestimmter
Gruppen oder mit der Drohung mit Zwangsimpfungen. Man muss sich dann vielleicht sogar eigenen Impfängsten stellen, wie ich sie hier ja letztes Jahr auch beschrieben habe.

Aber das lohnt sich. Denn die nahe Familie und enge Freunde spielen immer noch eine große Rolle für den Schutz der Kleinen, bevor diese selbst geimpft werden können. Als meine Jungs vor zehn bzw. sieben Jahren geboren wurden, war mir dieser Teil der Geschichte auch noch weniger klar als heute. Aber wäre ich mit meinem jetzigen Wissen heute noch mal schwanger, würde ich meine Nächsten auf jeden Fall bitten, ihren eigenen Impfschutz gegen die fiesesten Infektionskrankheiten zu überprüfen.

Den Masern-Impfschutz der 30- und 40-Jährigen zu checken, sollte meiner Meinung nach für den Schutz eines Kleinkinds in der (Groß-)Familie so normal sein, wie das Grabsche-Baby vom Topf mit kochendem Wasser und von scharfen Messern fernzuhalten. So wünschenswert und selbstverständlich wie es auch die Sicherung von Treppen und Steckdosen ist, wenn die Kinder ins Krabbelalter kommen. Oder das Üben von  Verkehrsregeln, wenn sie größer sind. Mit dem Wissen, dass man das Risiko damit nie auf Null senken aber doch reduzieren kann.